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Die Zeit der Wohngemeinschaften ist eigentlich nie zu Ende gegangen – es gab sie aus verschiedenen Gründen wohl zu allen Zeiten. Meist geht es dabei um das Praktische – man teilt sich die Miete und kann sich so ein Dach über dem Kopf leisten, oder vielleicht hat man keinen Grund allein wohnen zu wollen. In den Hippiekommunen der Sechziger und Siebziger ging es um das Ausprobieren neuer Modelle des Zusammenlebens, wobei es da natürlich auch um das Teilen ging.
Heute gibt es Senioren-WGs, betreute Wohngemeinschaften für Jugendliche und viele andere Arten dieses Zusammenlebens. Einfach ist es mit Sicherheit nicht, in so einer Gemeinschaft zu leben – ohne Regeln geht es nicht und jeder braucht seinen Freiraum. Aber wie immer man die alltäglichen Dinge, die anfallen, auch regeln mag – ein Erlebnis ist das Gemeinschaftswohnen wohl immer.
Es kann allerdings auch märchenhafte Züge haben, so wie in dem zauberhaften Buch der französischen Journalistin und Schriftstellerin Anna Gavalda: "Zusammen ist man weniger allein" (550 Seiten). Diese besondere Wohngemeinschaft befindet sich in Paris – und sie ist völlig unabsichtlich. Philibert, ein echter Marquis, besetzt in gewissem Sinne eine alte Wohnung von riesenhaften Ausmaßen. Eigentlich ist er eine Art Platzhalter in einer Erbschaftsangelegenheit – eine Art adeliger Wohnraumbesetzer. Der herzensgute, wenn auch sehr schüchterne Gelehrte um die Vierzig herum stottert erbärmlich und liebt die Einsamkeit. Aber trotzdem hat er es fertiggebracht, den forschen Koch Franck aufzugabeln und bei sich wohnen zu lassen.
Franck ist nach außen hin ziemlich rüde – jedenfalls wirkt er so, vor allem weil er ständig müde und überarbeitet ist. Er ist ein sehr begabter Koch, der seinen Beruf liebt – aber er hat große Sorgen. Philibert und Franck sehen sich tagelang kaum, was an den verschiedenen Zeiten liegt, in denen sie aktiv sind. Sie streiten – Franck ist nichts weniger als ein Intellektueller, wenn auch intelligent und empfindsam. Das allerdings versucht er mit ziemlich großem Erfolg zu verbergen – aber der Marquis ist ein echter Menschenfreund, ein hochsensibler Mensch, der große empathische Fähigkeiten hat. Und er respektiert den hektischen Franck.
Zu diesen beiden Eigenbrötlern in die Festung kommt Camille. Die magersüchtige junge Frau arbeitet in einer Putzkolonne und fühlt sich eigentlich ständig von Steinen zerrieben – eine Sache, die viel mit ihrer Mutter zu tun hat. Camille floh vor der übermächtigen und hysterischen Frau – sie verschwand fast in einem Geröllfeld, das nur sie wahrnimmt. Aber wie die beiden anderen Menschen in der Wohnung ist sie sehr begabt – sie zeichnet. Camille arbeitet mit Tusche, wie ihr verehrtes Vorbild, ein japanischer Meister. Obwohl sie die Menschen ebenso flieht wie der Marquis und Franck, erfasst sie sofort deren Wesen. Mit wenigen Strichen kann sie das, was sie sieht, auf das Papier bringen – reduziert und genial wie ein japanischer Tuschekünstler.
Das Mädchen Camille und der Koch Franck geraten sofort in eine Art Territoriumskampf – wäre nicht der herzensgute Philibert, würden beide vielleicht wieder weglaufen ... wie so oft. Doch langsam wächst das Vertrauen – Freundschaft wird möglich, Respekt kommt dazu ... und die Liebe zeichnet sich sachte wie ein zarter Pinselstrich ab. Und als Camille dann eine verrückte Idee hat, wird die Wohngemeinschaft komplett. So kommt Paulette hinzu, eine gebrechliche alte Frau, welche die Großmutter von Franck ist, dem Koch. Paulette konnte nicht mehr alleine leben, zu oft stürzte sie hin – man hatte Bedenken. Im Altersheim ist sie kreuzunglücklich – und Franck ist hin- und hergerissen zwischen fieberhafter Arbeit und den ewigen Gewissensbissen wegen Paulette. Nach langem Hin und Her setzt Camille ihren Kopf durch ... die Alte zieht in die Wohnung mit ein.
Und dann geschehen Wunder, spröde und ohne Glanz, aber immerhin Wunder. Philibert schließt sich einer Theatergruppe an, Camille hat längst wieder angefangen zu essen, Franck kümmert sich um Oma – aber dann muss die Wohnung geräumt werden. Die Wohngemeinschaft ist am Ende. Aber auch nur die, denn der Marquis hat seine Schüchternheit überwunden und heiratet – Franck und Camille denken daran, ein Lokal zu eröffnen. Sie ziehen in das alte Häuschen Paulettes, und dort nehmen die beiden jungen Leute so etwas wie ein gemeinsames Leben in Angriff. Die endlich am Ziel angekommene Paulette stirbt – und für die anderen fängt vieles an.
Die Charaktere der Geschichte sind unglaublich lebendig gezeichnet, und die Sprache Gavaldas ist herb poetisch, manchmal fast sachlich, so wie man sie spricht, wenn man lebt. Langweilig ist die Geschichte nicht einen einzigen Moment – das wirklich Märchenhafte daran sind die sehr realen Menschen, die schwer an ihren Altlasten tragen und darüber ein wenig sonderbar geworden sind. Aber doch siegt das Verständnis für das, was Menschen ausmacht. Die Streitereien, die eigentlich das Grundthema sind, zerstören weder die Achtung voreinander noch die Gemeinschaft an sich – das "Du" und das "Ich" sind nicht gefährdet dabei. Das ist der Idealzustand für das menschliche Zusammenleben.
Die Geschichte ist bezaubernd, aber weder süßlich noch sentimental – sie beschreibt einfach, wie kleine Wunder zustande kommen.
© "Zusammen ist man weniger allein": Buchtipp von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Person sitzt am Fluss, CC0 (Public Domain Lizenz).
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