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"Deine Mutter ist 'ne Hexe, 'ne Hexe! Die wird verbrannt!" Mal flitzte um die Ecke, um es nicht hören zu müssen, aber seine Chancen waren gering. "Verbraaaaannnt!!!", schallte es hinter ihm her, geschrien von mehr als einer Stimme. Eigentlich hieß er Malcolm, aber jeder nannte ihn "Mal", bis auf die meisten Jungs in seiner Klasse. Die nannten ihn Teufelsbrut, Hexenbalg, und als Variation hin und wieder auch mal "Opfer".
Für seine zwölf Jahre war er nicht besonders groß geraten und ganz bestimmt nicht kräftig. Malcolm Strattner – ein bescheuerter Name, wie er selber fand – war zwar einer der Besten an der Schule, aber leider auch einer der Schwächsten. Früher hatte ihn das nicht gestört, seine Interessen lagen sowieso nicht unbedingt beim Sport oder solchen Dingen – aber seit er und seine Mam in diese Kleinstadt hier gezogen waren, hatte sich so einiges verändert.
"Mam, ich will nicht weg von hier. Meine ganzen Freunde sind hier, verstehst du das nicht?" Mals Mutter hatte es verstanden, aber daran ändern konnte sie nun auch nichts. Ihre Schwester war krank, sehr krank geworden und brauchte sie nun einmal. Dass Tante Evelyn in dieser Kleinstadt lebte, die Malcolm nur ein einziges Mal gesehen hatte, als er und Mam zu Besuch waren, war eben eine Tatsache. "Ich muss meiner Schwester beistehen, Mal. Es geht nun einmal nicht anders." Und so wurde gepackt und binnen weniger Wochen die Wohnung, der Laden und überhaupt das alte Leben aufgekündigt und Berlin verlassen.
Der Laden war Mams Leben – ein Geschäft für Räucherkerzen, Kristallkugeln, Zigeunerkarten, besondere Teemischungen, Literatur über Esoterik und alles, was damit zu tun hatte. Mal war damit aufgewachsen, er interessierte sich nicht sehr für solche Sachen, sie gehörten einfach zu seinem Leben. Nach Geschäftsschluss kamen manchmal Leute, Frauen meist, die sich "die Karten legen" ließen und dafür Geld bezahlten. Es war eine ganz normale Sache.
Mam war alleinerziehend und meistens Single – sie verbrachte sehr viel von ihrer knappen Freizeit mit ihrem Sohn. Mal schätzte das sehr – und obwohl er kein Interesse für die Sachen im Laden aufbrachte, hatten er und Mam viele gemeinsame Vorlieben. Lesen war eine davon – Mal liebte Fantasy- oder Abenteuergeschichten. Oder auch Mischungen aus beidem – es lief ja oft auf das Gleiche hinaus. Und Mam ließ ihn lesen, soviel er wollte – was Mal zwar gefiel, ihn aber nicht gerade fit hielt. Im Sportunterricht glänzte der Junge nicht unbedingt, er rutschte so mit, wie der Lehrer sagte. Seine Freunde waren nicht viel anders, außer Jens vielleicht, der ein As auf seinen Skates war.
Dann wurde alles, alles anders. Tante Evelyn brauchte rund um die Uhr Mams Hilfe – bis sie wieder in die Klinik kam. Und dann war sie plötzlich tot, sie kam nicht wieder zurück. Mal war traurig darüber, Tante Evelyn hatte er gemocht. Und obwohl er Mam tröstete, so gut er konnte, atmete er heimlich auf, denn wenn es keinen Grund mehr gab, hier zu bleiben, würden sie wieder nach Berlin können. Aber Mam dachte nicht an so etwas – es gab viel zu viel zu erledigen. Das Haus mit dem kleinen Laden im Erdgeschoss war jetzt ihres – die ehemalige Bäckerei würde für den Zauberladen sehr gut passen. Mam und Mal würden im oberen Stockwerk wohnen, enger als daheim in Berlin, aber sehr gemütlich. Und dann, nachdem sie vier Wochen in diesem Kaff waren (Malcolm nannte das zweitausend Seelen zählende Städtchen nie anders bei sich), meldete Mam ihn an der Schule an. Spätestens da wusste Mal, dass der Traum von Berlin geplatzt war – und er wurde unausstehlich.
Er fand sich selber nicht so toll, denn Mam weinte sowieso zu viel wegen Tante Evelyn – und er brachte es ohne weiteres fertig, dass sie nur noch mit verquollenen Augen herumlief – aber er konnte sich nicht helfen. Er hasste diesen Ort. Seine Kumpel hatten die ersten beiden Wochen fast täglich angerufen oder eine SMS geschrieben – aber das wurde weniger. Und Mal wusste, dass seiner Mam das leidtat und sie ein schlechtes Gewissen hatte deswegen – und trotzdem warf er ihr ziemlich gemeine Sachen an den Kopf. Es war keine tolle Zeit – für beide nicht.
Richtig übel wurde es dann in der Schule. Erstens einmal war der Unterricht völlig anders, als Mal das gewohnt war. Nicht wie in Berlin, wo es ziemlich lässig zuging die meiste Zeit. "Autoritär" war das Wort dafür, das wusste er – darüber hatte er einiges gelesen. Mam meinte nur, er solle doch nicht so übertreiben – er würde sich schon noch eingewöhnen. Aber er hatte nun mal das Gefühl, dass ihn die Lehrerin nicht mochte. Für seinen Geschmack hatte sie zu viel Betonung auf diese Frage "Deine Mutter ist alleinerziehend?" gelegt. Und auch noch vor der ganzen Klasse. Da, wo Mal herkam, waren viele Mütter und auch einige Väter alleine – niemand fand das komisch. Aber Frau Scherlich – den Namen mochte Mal nun auch nicht sehr – tat so, als wäre das die Ausnahme des Jahres. Mal wusste zwar, dass viele Jungs in seiner Klasse mit einem Elternteil alleine lebten, aber das war so, weil die Eltern geschieden waren. Er hatte keine Ahnung, wieso das einen Unterschied machen sollte – aber die Lehrerin sah da offenbar einen.
Malcolm mochte Schule ganz gerne, er hatte auch selten Probleme mit dem Lernen. Aber hier machte nichts wirklich Spaß – und dass sich gleich vier Jungs in dieser Klasse auf ihn eingeschossen hatten, führte er auf die Kommentare der Scherlich zurück. Die wusste natürlich, was für einen Laden Mam aufmachen wollte – sie hatte ja fleißig Werbung dafür gemacht. In der popeligen Zeitung, im Internet und mit diesem Plakat im Schaufenster der alten Bäckerei.
Mal hatte einmal versucht, zu erklären, was es damit auf sich hatte – mit dem Laden. Nur ein einziges Mal – aber er hatte nicht mal einen Satz herausbringen können, weil Justus ihn auf den Boden gestoßen hatte, bevor er auch nur recht angefangen hatte. "Halt's Maul, du Opfer", hatte er dann gebrüllt und Mal angespuckt. Die anderen hatten gelacht und es großartig gefunden – aber zum Glück kam da gerade Mals Mutter angefahren. Sie hatte gar nicht mitgekriegt, was passiert war, hatte nur gesehen, dass da ein Pulk Jungens stand und Malcolm aus der Gruppe heraustrat – als Mal das merkte, sagte er ihr nichts. Aber am nächsten Tag stand "HEXE" auf der vorderen Hauswand geschrieben. Zum Glück war es keine Sprühfarbe, und während Mam und Mal das Wort abschrubbten, sagte sie, dass man so etwas nicht allzu ernst nehmen dürfe.
© "Malcolm – Das Opfer": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Schwarze Stiefel, CC0 (Public Domain Lizenz).
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