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Teil II: Justus und die Satelliten
Was danach passierte, kriegte Malcolm nicht so richtig mit. Es war, als gäbe es da eine weiche, durchsichtige Decke, die um seinen Kopf gewickelt war. Der Mann, der "Trage!" gerufen hatte, stellte ihm Fragen. Es ging um Namen und Adresse und solche Sachen.
Mal gab auch die richtigen Antworten, sogar die Telefonnummer konnte er hersagen. Aber trotzdem war das alles irgendwie nicht so richtig wirklich. Er fand, dass es sich anfühlte, als würde man ein Buch lesen oder einen Film ansehen. Dann kicherte er vor sich hin, weil er sagen sollte, wie viele Finger der Mann hochhob. "Blöd", dachte Mal, "denkt der, ich kann nicht zählen?" Er hörte, wie die Männer miteinander sprachen. "Zur Beobachtung", sagte derjenige, der wohl der Arzt war. Und dann wurde ihm schon wieder schlecht.
Später lag ein sehr blasser, aber ansonsten munterer Malcolm im Krankenhausbett, während seine Mutter völlig aufgelöst und mit einem ganzen Päckchen Papiertaschentüchern auf der Bettkante saß. Gerade eben war der Stationsarzt hinausgegangen, und Mam konnte sich nicht mehr zusammennehmen.
"Warum hast du mir denn nichts davon gesagt", schluchzte sie und schnäuzte sich die Nase. Mal hätte antworten können, dass er es ja versucht hatte. Aber er hatte schließlich zwölf Jahre Erfahrung im Umgang mit seiner Mam, wie er dachte und sagte deshalb erst einmal nichts. Mals Mutter war unter normalen Umständen eine sehr kluge Frau. Sie kriegte so ziemlich alles hin, weil sie ja musste. Aber manchmal, wenn es ziemlich heftig kam, knickte sie ein. Das bedeutete, dass sie sich so richtig ausheulte und dabei nicht ganz logisch denken konnte. So ähnlich hatte sie es ihrem Sohn einmal erklärt – und dass es am besten sei, wenn man wartete, bis sie sich wieder einkriegte.
"Der Arzt hat gesagt, dass du eine leichte Gehirnerschütterung hast und ein paar Abschürfungen. Du bleibst heute noch hier, weil sie dich beobachten wollen. Morgen früh komme ich dich abholen und dann bleibst du diese Woche erst mal zu Hause. Mit der Lehrerin spreche ich nachher noch." Bei diesen Worten kriegte Mam rote Wangen und ihre Augen blitzten gefährlich. "Was denkt die sich überhaupt? Das ist ja schon unterlassene Hilfeleistung, was diese Person da gemacht hat." Mal sparte sich jedes Wort über "kompetente Lehrerinnen" und war froh, dass seine Mutter die Sache jetzt richtig sah. Dass Mam jetzt eine halbe Stunde ununterbrochen über die Scherlich wettern würde, war ihm klar. Wahrscheinlich hatte sie ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm nicht gleich geglaubt hatte. Er wusste aber, dass sie sich bald beruhigen würde und der Scherlich nichts von dem antun würde, was sie ihm gerade beschrieb. "Aber den Schulleiter werde ich mir vorknöpfen, das ist sicher", sagte sie dann noch zum Schluss. Und da Mal seine Mam kannte, hörte er an ihrer Stimme, dass sie das als ihre Pflicht ansah. Und da er seine Mutter wirklich gut kannte – so gut wie zwölfjährige Kinder das nun einmal tun – wusste er, dass dem Mann eine ziemlich unangenehme halbe Stunde bevorstand.
Dann hatte Mam ruhig dagesessen und Mal die Stirn gestreichelt, als es an die Türe klopfte. "Herein", sagte Malcolms Mutter etwas unsicher. Die Türe ging leise auf, und die nette Bäckereiverkäuferin steckte den Kopf herein. "Darf ich?" Dann wurde es sogar gemütlich. Eigentlich war die resolute Frau ja Mals Rettung gewesen, und Mam bedankte sich von ganzem Herzen. Sie ließ sich genau erzählen, was passiert war. Frau Kabitzke konnte leider nichts über die Rauferei sagen, sie war vor den Laden getreten, um die Scheibe der Eingangstüre abzuwischen und hatte gesehen, wie die Scherlich – sie sagte tatsächlich "die Scherlich" und nicht etwa "Frau Scherlich", was Malcolm insgeheim freute – den auf dem Boden sitzenden Jungen ansprach. "In einem Ton, wissen Sie, als würde er Murmeln spielen und sich vor der Schule drücken. Also wirklich, ich weiß nicht, was die Frau sich gedacht hat. Und ich heiße Linda." Linda redete ziemlich lange mit Diana – so hieß Mam nämlich – und drehte hin und wieder den Kopf zu Mal, um ihm zuzuzwinkern. Er wurde müde über dem Zuhören, aber er fühlte sich irgendwie wohl. Es war heimelig hier, im langsam dunkel werdenden Zimmer und den beiden Stimmen, die gedämpft sprachen. Malcolm fühlte, wie sein Körper angenehm schwer wurde und seine Augen langsam zufielen, aber bevor er völlig in seine Müdigkeit versank, hörte er Linda ganz deutlich sagen: "Das ist eine eigenartige Stadt, Diana. Das wirst du noch merken." Dann schlief er ein.
Der nächste Morgen begann mit einer ziemlich langen Untersuchung. Mal hielt sich tapfer, zählte noch einmal Finger und ratterte Wochentage und Monate herunter – wurde geröntgt und bekam noch einmal eine orangefarbene Tinktur auf die Abschürfungen gestrichen. Mam war da und sprach noch einmal mit dem Arzt – dann durfte sie Mal mitnehmen. Er war ein ganz klein wenig wackelig auf den Beinen, aber sonst ging es ihm gut. Dass er das Frühstück im Krankenhaus nicht angerührt hatte, lag einfach daran, dass er heimwollte. Bis zur Türe kam noch eine Krankenschwester mit – dann ging er mit Mam zum Auto und sie fuhren endlich los. "Wieso heißt es eigentlich 'Pfleger', wenn die Krankenschwester ein Mann ist, und nicht 'Krankenbruder'?", fragte Mal seine Mutter. "Dir geht es wohl viel besser, was?", sagte Mam mit einem Seitenblick zu Mal. Und dann prusteten sie los. "Ich ... ich habe nicht die geringste Ahnung", juchzte sie. Dabei liefen ihr die Lachtränen über die Wangen. "Krankenbruder", wiederholte sie mit einem Glucksen und lachte wieder, so wie nur sie lachen konnte: richtig laut und ungeniert. So wie ein Rasensprenger. Glitzernd und lustig. Für Mal hieß das, dass sie sich wieder "eingekriegt" hatte und alles wieder in Ordnung war. Na gut – vielleicht nicht wirklich alles, vielleicht sogar nur ein kleiner Teil – aber es war ein Anfang.
© Textbeitrag "Malcolm – In der Klinik": Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Kind in Gewinnerpose, CC0 (Public Domain Lizenz).
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