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Teil I: Das Opfer
"Die Leute hier sind etwas altmodisch, Mal – aber sie sind in Ordnung. Jedenfalls wenn man sie kennt." Ganz so überzeugt hörte sich das nun nicht an, fand Mal. Und wie sollte man, fragte sich der Junge, jemanden kennenlernen, der einen gleich auf den Boden schmiss. Justus war der stärkste Junge in der Klasse – groß und dünn. So richtig stark sah er nicht mal aus, aber er prügelte immer gleich los. Erst schrie er – dann schubste er oder haute gleich zu.
Mal war nicht der einzige, der sich an Justus' Aufmerksamkeit freuen durfte, aber da er neu war, sah ihn der Klassenschreck wohl als Abwechslung. Beim Unterricht glänzte er nicht besonders, wie Mal mit ein klein wenig Schadenfreude dachte. Um ihn herum gab es dann noch Daniel, Uwe und Milan. Die drei waren irgendwie etwas verschwommen für Mal, so als ob sie keine eigene Persönlichkeit hätten. Es waren einfach "die drei anderen". Sie waren nicht das Problem, denn die drei taten eigentlich nie etwas von sich aus, sondern machten alles mit, was Justus tat. Aber auch dann sagten sie nicht viel, sondern lachten meist einfach – so richtig doof, so wie eine Ziege meckert.
Mam hatte sich anfangs mit der Scherlich unterhalten, und sie hielt die Lehrerin für nett und kompetent. Das Wort "kompetent" kannte Mal – es hieß ja wohl, dass man seinen Job gut machte. "Wenn das heißt, dass die Lehrerin einen vor der ganzen Klasse runtermacht, dann ist die Scherlich kompetent." Mal gehörte zu den Kindern, die sich gut ausdrücken konnten, wenn sie wollten – das kam wahrscheinlich vom Lesen, wie seine Mutter meinte. Aber Mam nahm ihn nicht ernst. Sie blieb dabei, dass er sich das mit der Scherlich nur einbildete. "Dir gefällt es hier nicht, und jetzt suchst du einfach überall ein Haar in der Suppe", hatte sie gesagt.
Am liebsten hätte Mal ihr geantwortet: "Und du willst hier alles ganz toll finden und deshalb siehst du überhaupt nicht, was wirklich läuft", ... aber er ließ es sein und ging an seine Hausaufgaben. Und oben in seinem Zimmer heulte Mal, während unten im Laden seine Mam ebenfalls weinte, als sie die Wände abwusch, weil bald gestrichen werden sollte. Das war gestern gewesen, und Mal hatte fast geglaubt, dass das der schlimmste Tag der Woche gewesen sein musste. Bis er in die Schule ging, hatte er das noch gedacht und den Blick nicht von seinen Turnschuhen genommen, während er nicht besonders eilig zum Unterricht trottete.
Plötzlich stieß er so heftig gegen einen Widerstand, dass er zurückprallte – und erschrocken sah er das vor regelrechter Freude glänzende Gesicht von Justus vor sich. "Sieh mal an – das Hexensöhnchen ist zu doof zum gradeauslaufen." Hinter ihm grölten die drei Satelliten Daniel, Milan und Uwe wie eine Herde bescheuerter Rindviecher.
Mal war so erschrocken, dass sein Mund plötzlich sehr, sehr trocken war und sein Magen sich anfühlte, als hätte ihm jemand einen eiskalten Stein hineingelegt. Er drehte auf dem Absatz herum, um loszurennen, stieß aber wieder auf ein Hindernis. Uwe hatte sich hinter ihn gestellt und wuchtete ihn jetzt mit dem Brustkasten zurück gegen Justus. "Wo will der Kleine denn hin?", höhnte der und schubste Mal wieder zu Uwe – und dann wurde es wirklich schlimm, denn Mal wurde von den vier Jungs wie eine Stoffpuppe hin- und hergestoßen. Justus zielte jedes Mal auf die Stelle über dem Magen, und Mal hatte das Gefühl, als wären da glühende Kohlen unter seinem Hemd. Ihm wurde schlecht, und er hatte ziemliche Angst, sich übergeben zu müssen. Wenn er Justus auf die Schuhe kotzen würde, wäre er wohl ein toter Mann.
Wie lange das ging, wusste Mal nicht – mittlerweile stießen die Jungs blindlings zu – trafen ihn im Nacken und am Kopf – und da knallte er mit den Knien auf das harte Pflaster, das sich sonderbar weich anfühlte.
"Malcolm Strattner, wie siehst du denn aus? Steh auf, bist du hingefallen oder was ist passiert?" Mühsam hob Mal den Kopf und sah verschwommen die Gestalt seiner Lehrerin vor sich. Die Scherlich stand vor ihm und redete – Mal verstand sie nicht. Dann spürte er, wie jemand ihn hochzog und auf die Füße stellte, er riss die Augen auf und sah an sich hinunter. Die Jeans war an einem Knie aufgerissen, sein Hemd mit irgendetwas eingesaut und er konnte nicht richtig sehen. Er bekam mit, dass die Scherlich auf ihn einredete – etwas von "unerhört". Mal wollte etwas sagen, seine Stimme war aber weg.
"Ja, sehen Sie denn nicht, dass das Kind verletzt ist? Ich habe einen Krankenwagen gerufen, der Kleine kippt ja jeden Moment um. Und ich glaube auch nicht, dass er sich selber so zugerichtet hat." Die Scherlich war verstummt, war einen Schritt zurückgetreten und Mal drehte unter Schmerzen den Kopf, um zu sehen, wer das gesagt hatte. Das klang ja – er fand es auf eine verwaschene Art ziemlich lustig – als würde die Person sich mit der Lehrerin anlegen wollen. "Mahlzeit", dachte Mal und wollte kichern, kriegte aber seine Lippen nicht auf, die waren wie aufgeblasen und taten weh. Aber er konnte sehen, dass es die Frau aus der Bäckerei war, in der die Schüler morgens noch schnell etwas für die Pause holten, weil dieser Laden gerade gegenüber dem Haupteingang der Schule war. Die Frau war ziemlich dick und sah nett aus – Malcolm mochte sie, weil sie immer freundlich war, auch wenn die Schüler schlimm drängelten an der Theke. Sie legte Mal ihren Arm um die Mitte und stützte ihn, hörte aber nicht auf mit dem Schimpfen. "So etwas, das Kind hier braucht einen Arzt und keine Predigt. Was für eine Lehrerin sind Sie denn überhaupt?"
Erstaunlicherweise kam von der Scherlich kein Wort – sie starrte Mal und die nette Verkäuferin an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. In diesem Moment bog eine Ambulanz um die Ecke. Wie durch eine verschmierte Fensterscheibe sah Mal, wie zwei Männer ausstiegen und auf ihn zukamen. Einer hatte eine Art Koffer, er sah Malcolm an und winkte dem anderen Mann. "Trage", sagte er dann. Und dann übergab sich Mal doch noch.
© "Malcolm – Justus und die Satelliten": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Illustration mit Kind, CC0 (Public Domain Lizenz).
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