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Frustriert betrachtete Helmuth den Bildschirm seines Notebooks, während er routiniert mit zwei Fingern Wörter tippte. Es war zusammenhangloses Zeug, diente nur dem Gewöhnungsprozess, den er für notwendig hielt. Helmuth Kerwantz fehlte das Tackern der Schreibmaschine, der kleine Urknall, der jeden einzelnen Buchstaben hervorbrachte.
Die fast lautlosen Anschläge waren für ihn wie alkoholfreies Bier – nicht, dass er oft Bier trank. Aber wenn, dann keines ohne die Grundingredienz. Das hier war ein ERSATZ für das Schreiben, kein Schöpfungsakt. Es war, verdammt noch mal, zu leise. Es übertönte nicht die Stimme seiner Frau, von der er geglaubt hatte, dass sie endlich, endlich den Mund halten würde, sobald er in einem für ihre Ohren angenehmen Ton schreiben würde. Das war der Grund für die Anschaffung dieses kleinen Schreibmaschinenersatzes gewesen, das gedämpfte, unfruchtbare Tippen.
Helmuth war ein besessener Schreiber gewesen, er rang mit der altmodischen Schreibmaschine ohne Stromanschluss, mochte das Stakkato der Tasten, wenn er flüssig schrieb. Es war wie Filmmusik, wie begleitender Trommelwirbel. Die Maschine hatte einen schweren Anschlag gehabt, es war mühselig gewesen, schnell zu tippen. Es war ARBEIT gewesen – und jeder hatte es gehört. Vera nannte das "Krach". Aber Vera hatte für alles, was Helmuth tat, andere Bezeichnungen.
So hatte sie für Helmuths tapfere Entscheidung, aus dem Geschäft seines Vaters auszutreten, um sich mehr seiner schriftstellerischen Arbeit hingeben zu können, ein Standardwort. Es hieß: himmelschreiende Blödheit. Sie konnte oder wollte nicht verstehen, dass Helmuth für Höheres geboren war, als dafür, trauernden Hinterbliebenen Särge und verschiedene Preispakete für die letzte Ausstattung des lieben Dahingeschiedenen anzudrehen. Das konnte jeder Idiot, wie man an seinem Bruder Wolfgang sah – er wollte sein Talent nicht mit aufgesetzter Teilnahme und distinguiertem Gesichtsausdruck verschwenden. Hin und wieder half er durchaus aus, schließlich ging es um seine Familie, aber er wollte das nicht ständig tun müssen. Das Notwendigste verdiente er mit einem Teilzeitjob als Fahrer, und Vera hatte zwei Putzstellen.
Er war schließlich ein Kreativer – jawohl, das war er: KREATIV. Vera war noch nicht einmal fähig, das Bratkartoffelrezept zu variieren, das sie seit fünfzehn Jahren verwendete. Ebenso wenig fielen ihr neue Beleidigungen ein – ihre Skala reichte von "Versager" bis "Idiot", dazwischen gab es nichts. Aber er würde es ihr zeigen, er würde es allen noch zeigen. Sein Vater arrangierte Begräbnisse, aber in Helmuths Welt waren sie nicht wichtig – die Leichen, die er produzierte, staken in Betonblöcken, trieben in Hafenbecken oder lagen in dichtem Unterholz. Sein Metier war das Verbrechen. Er schrieb leidenschaftlich Kriminalgeschichten. Vera hatte es sogar einmal auf sich genommen, eine davon zu lesen. Aber alles, was sie dazu sagte, war: "Der Detektiv, dieser Braxton oder wie der heißt, das ist mal ein Kerl. So einer wie du nie sein wirst." Weiter hatte sie nichts gesagt.
Es hätte Helmuth klar sein sollen, dass Vera nicht in der Lage war, komplexe Handlungen zu verstehen. Und dass Braxton ihr gefiel – das hätte er voraussagen können. Smart, hart, intelligent und gefürchtet, war er der Schrecken der Unterwelt. Die Frauen mochten ihn. Nein, sie lagen ihm zu Füßen. Braxton nahm sie, wenn es ihm in den Kram passte, und ließ sie fallen. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er nahm es mit allen auf, er war stahlhart. Und er hatte einen siebten Sinn für das Verbrechen. Für eine wie Vera hätte er nicht einmal aufgesehen – aber das begriff sie natürlich nicht.
Düster betrachtete Helmuth nun wieder den Bildschirm. Vielleicht würde es helfen, wenn er seine Lieblingsmusik laufen ließ während des Schreibens. Falls das nicht am sensiblen Gehör seiner Frau scheiterte.
Nach einigen Auseinandersetzungen in den folgenden Tagen begann Helmuth Kerwantz, sich aus dem Bett zu stehlen, sobald Vera eingeschlafen war, und sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Er hatte angefangen, wieder mit der Hand zu schreiben, so wie damals als Schüler, als die Eltern glaubten, er schliefe. Dabei hatte er seine ersten Geschichten geschrieben, im Schein seiner kleinen Schreibtischlampe. Zwar bescherte ihm das einige Schreibkrämpfe, aber er hatte entdeckt, dass er es liebte, den Fluss der Tinte zu spüren. Helmuth benutzte einen uralten Kolbenfüller, der eine sehr breite Feder hatte. Die Wörter flossen nur so auf das Papier – es war eine entschieden interessante Erfahrung. Es war – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Schreibfluss, der da aus dem Füller kam, und Helmuth fühlte sich kreativ wie lange nicht.
Außerdem hatte Helmuth ein kleines Geheimnis – er hatte mehrere seiner Geschichten an Verlage geschickt. Vorher hatte er es nicht gewagt – wer wusste schon, was man dort von guten Kriminalstorys verstand. Aber seit er diesem erstaunlichen Fluss folgte, hatte er vor nichts Angst. Die Ideen flossen von seinem Kopf direkt auf das Papier – wer brauchte schon eine Tastatur. Vielleicht war das ja der Fehler gewesen: er hatte eine Maschine zwischen sich und das Papier geschoben. Dieser Füller war anders, er war ein Verbindungsstück – ein Adapter. Und Vera hörte nichts – es war schon irgendwie spaßig, als sie mit saurem Gesicht das zugeklappte Notebook abstaubte und ihn fragte, ob er mit dem Ding nicht klarkäme und dass sie sich das ja hätte denken können. Und dann machte sie noch Bemerkungen über das zum Fenster hinausgeworfene Geld für dieses Ding.
Mehrere Wochen später verfluchte sich Helmuth Kerwantz für seine Nachlässigkeit. Er hatte es versäumt, auf die Post zu achten und Vera war vor ihm am Briefkasten gewesen. Und natürlich hatte sie gesehen, dass es sich bei einem Absender um einen sogar ihr bekannten Verlag handelte. Nicht, dass sie den Brief geöffnet hätte – aber sie wich Helmuth nicht mehr von der Seite. Sie hatte eine ganz bestimmte Strategie – sie lästerte und keifte, beleidigte und verhöhnte ihn so lange, bis er ihr den offenen Brief hinwarf. Was dann folgte, dauerte gut zwei Stunden.
"Blutleer sind deine Geschichten, wie? Nicht wirklich mitreißend. Langweilig ist dein Geschreibe also, langweilig wie du selber. Hast du es gelesen? Gute Autoren schreiben mit ihrem Herzblut. Ha – du hast kein Herz, du Versager!" Helmuths Hinweis darauf, dass der Verleger die Geschichten allerdings "ausbaufähig" genannt hatte, überging Vera in ihrem Höhenflug und entwickelte eine überraschende Kreativität, was die Schmähungen betraf, die sie Helmuth an den Kopf warf, bis vor seinen Augen die Welt in einem blutroten Meer versank.
Am nächsten Abend saß Helmuth Kerwantz beim Schein der kleinen Lampe an seinem Schreibtisch und schüttelte seinen Füller, hob ihn gegen das Licht, um die Flüssigkeit in dem gläsernen Tank zu begutachten. Er schüttelte das Schreibgerät leicht und registrierte zufrieden, dass es darin fast unhörbar schwappte. Es war erstaunlich, was man im Internet für Informationen bekam, wenn man danach suchte. Es war darum gegangen, die Gerinnung zu verhindern – schließlich sollte der Schreibfluss nicht gestört werden. Citrat war die Lösung gewesen – Zitronensäure. Lächelnd setzte sich Helmuth zurecht, es würde eine lange, fruchtbare Nacht werden. Er schrieb – wie jeder erfolgreiche Autor – mit Herzblut. Wenn auch nicht mit seinem eigenen. Und während Helmuth Kerwantz wie besessen schrieb, wurde ein Anruf, den er nicht wahrnahm, auf den Anrufbeantworter umgeleitet.
"Vera? Hier ist Mama – du hast dich nicht gemeldet, ist etwas passiert? Ruf mich doch an, ich mache mir Sorgen."
© "Mit Herzblut und vollem Einsatz": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Die Illustration "Death found an author writing his life" wurde gezeichnet von E. Hull, Creative Commons-Lizenz.
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