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"Noch ein Buch über Callcenter – wer braucht das?" So könnte jemand fragen – aber die Antwort wäre: dieses Buch brauchen alle, denn jeder von uns hat irgendwann einmal damit zu tun. Entweder als Kunde oder als Mitarbeiter. Die Kunden sehen nicht hinter die Kulissen, denn könnten sie das, wären sie wahrscheinlich entsetzt. Und was die Mitarbeiter betrifft: das Risiko eines Burnouts ist in kaum einer Branche so hoch wie genau da.
Alice M. Krins beschreibt in ihrem Buch "vatts.on läuft vorweg – erzählte Wirklichkeit über den Robin Hood der Kunden" eine Karriere, die schon manche intelligente und motivierte Callcenter Agents hingelegt haben, nämlich eine, die nicht stattgefunden hat – und die Autorin tut das sehr eindringlich. Der Leser wird mitgenommen in den Konzern, erlebt die anfängliche Freundlichkeit der Teamleiter und macht gewissermaßen die Schulung mit. Man ist dabei, beim Lesen – jeder, der solch einen Job schon einmal gemacht hat, wird das klamme Gefühl wiedererkennen, das er beim Aufblitzen der Monitore hatte. Solche, die nur von außen mit diesem Service zu tun haben, also Kunden von Energiekonzernen, Versandhäusern und allen anderen Möglichkeiten, wie man sich am Telefon die Nerven wundscheuert, lernen eine Welt kennen, von der sie keine Ahnung hatten.
Alice M. Krins' Beschreibung kommt mit einer besonderen Art der Ironie daher, die leicht und humorvoll erscheint. Aber sie ist, einfach durch diese beibehaltene Art der Mitteilung, dramatischer als es eine Abenteuergeschichte wäre. Dabei ist es in Wirklichkeit nichts anderes als die "David gegen Goliath-Geschichte", denn der Konzern sieht sich als allmächtig. Das bekommen die Kunden zu spüren, deren Status als "König" längst vorbei ist. Sie sind entthront und merken es kaum, sie bekommen eine Partnerschaftsbasis vorgegaukelt, die es in Wirklichkeit nicht gibt.
Callcenter-Mitarbeiter wissen das – manche gehen selbstverständlich damit um – aber andere, wie die Autorin, haben Probleme. Eine Frau über 50, gebildet und mit humanitärem Anliegen, in einem Center für einen Konzernriesen – geht das gut? Natürlich geht es nicht gut, und die Autorin muss nicht wirklich erklären, wieso das Projekt "endlich wieder selber für den Lebensunterhalt sorgen" scheitern muss. Man kann es Seite für Seite lesen, und das Entsetzen wächst in dem Maße, wie das Scheitern vorangeht. Beim Schließen des Buches kommt der Gedanke auf, dass nur die Besten nicht nach der Probezeit übernommen werden. Wer dort lange arbeiten will, muss Gewissen und Nervenkostüm an der Garderobe abgeben, ebenso wie die Selbstachtung.
Die innere Firmenpolitik basiert auf knallharter Hierarchie, auf zum Teil perfiden Machtspielen und natürlich auf der Angst der Mitarbeiter. Alice M. Krins bezeichnet sich selbst als Outlaw, als Gesetzlose, denn sie hat zugestimmt, die Interna der Firma an niemanden weiterzugeben. Dass sie es trotzdem tat, ist unser Gewinn. Was die Autorin hier beschrieben hat, ist wahrscheinlich der normale, tägliche Wahnsinn in jedem Callcenter.
Das interessante Vorwort des Journalisten und Schriftstellers Günter Wallraff stimmt auf die Notwendigkeit ein, sich mit dem Phänomen Callcenter zu befassen, liefert Informationen und macht bewusst, was wir sonst nur am Rande wahrnehmen – die schrittweise Entmündigung aller Beteiligten.
Alice M. Krins' Buch ist nicht einfach wichtig und informativ – es ist hochbrisant und sollte zur Pflichtlektüre werden für Menschen, die mit Callcentern zu tun haben – mittelbar und unmittelbar: also für alle.
© "vatts.on läuft vorweg": Rezension und Buchtipp von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Alice M. Krins.
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