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Der Gebrauch geschliffener Kristalle, um sie vor die Augen zu halten, ist schon seit der Antike bekannt. Nero soll einen gefassten Smaragd benutzt haben, um das Auge vor der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen. Von Archimedes wird behauptet, dass er den Nutzen solcher Linsen erkannt und tatsächlich eine verwendet haben soll, um kleine Dinge besser sehen zu können.
Dass eine Kugel, mit Wasser gefüllt und vor Geschriebenes gehalten, die Lettern vergrößert, wusste man – und von da war es eigentlich kein allzu großer Schritt zu dem Gerät, das wir heute "Brille" nennen. Das Wort kommt von dem Halbedelstein Beryll, der durchsichtig klar ist und zur Herstellung von Sehhilfen genutzt wurde. Mit der Zeit wurde dieser Name auf alle kristallartigen Steine angewendet, und aus "Beryll" formte sich das Wort "Brille".
Aber bis man die Sehkraft mit solchen Hilfsmitteln unterstützen konnte, dauerte es noch einige Jahrhunderte, so dass die Damen und Herren ein Monokel oder ein Lorgnon benutzen konnten. Dazu brauchte es nämlich den gekonnten Umgang mit Glas. Anfänglich nur für weitsichtige Augen – also zum Vergrößern geeignet – konnten mit der Zeit auch Hilfen für kurzsichtige Menschen hergestellt werden.
Diese zwar eleganten, aber doch ein wenig unpraktischen Augengläser mussten entweder in ein Auge geklemmt und dort mittels Muskelkraft gehalten, oder aber an einem Stiel vor die Augen platziert werden für kurze Zeit. Wohl gerade lange genug, um die "Toiletten" der anderen Damen genau betrachten und kritisieren zu können. Schneidige Herren trugen ihr "Einglas" mit ironischer Eleganz oder als Accessoire – man machte wohl das Beste daraus.
Die Brille, wie wir sie heute kennen, eroberte schnell die Welt – wenngleich sie wohl nicht sonderlich beliebt war, vor allem bei den weiblichen Kurz- und Weitsichtigen nicht. Es war ein Hilfsmittel, weiter nichts, und sie trug ihren Trägern den Ruf der Klugheit ein. Das lag wohl daran, dass gerade solche Menschen, die viel lasen, immer im Verdacht standen, sich damit die Augen zu ruinieren. Wer also Gläser trug, war intelligent. Das machten sich manche Leute zunutze, um ihre Wirkung in Richtung Seriosität zu erhöhen. Und da die Mode nichts auslässt, das sie irgendwie adaptieren könnte, nahm sie sich der Brillengestelle an. Da wurde edles Material wie Schildpatt (heute zum Glück ziemlich verpönt) verwendet, es wurde vergoldet und versilbert. Neckische Perlen oder Korallen zierten die Schmetterlingsbrillen der Frauen, Herren hatten dicke Brillengestelle mit auffallenden Bügeln. Für Kinder gab es Einheitsgestelle, rosa oder hellblau, und dämliche Sprüche der brillenlosen Mitschüler wurden kostenlos mitgeliefert.
Dann ging es rund – spätestens seit John Lennon war das Nasenfahrrad wieder salon- oder diskussionspodiumsfähig. Lange Haare und runde Brille galten als Erkennungszeichen der jungen Hermann-Hesse-Leser und waren durchaus akzeptiert. Die smarten Leute, die es schon zu etwas gebracht hatten, brachten markiges Flair in die Sache mit Pilotenbrillen. Das sah fesch aus und irgendwie nach Peter Fonda. Die Gläser waren groß bis riesig – vor allem bei Sonnenbrillen. Dahinter konnte man das halbe Gesicht verstecken, was auch bald als untrügliches Zeichen der Berühmtheit gesehen wurde. Man war interessant, wenn einen niemand richtig sehen konnte.
Sportbrillen wurden angeboten – mit Bügeln, die praktisch um das gesamte Ohr liefen. Sehr praktisch beim Training. Natürlich gab es schon Kontaktlinsen, aber eben nur die harte Variante, die nicht immer da blieb, wo sie hingehörte: im Auge. Das wurde später sehr verbessert – bis hin zu ganz weichen kleinen Linsen, die man manchmal auch dann nicht aus den Augen bekam, wenn man es wollte.
Aber Brillen wurden wieder zu dem, was sie früher einmal waren – neben ihrem Nutzen sind sie heute wieder modisches Accessoire und unterstreichen den Typ. Die Optiker bieten federleichte "Gläser" aus Kunststoffen an, alles ist entspiegelt und gehärtet. Brillen passen sich den Lichtverhältnissen an und dunkeln je nach Bedarf automatisch nach, der Komfort ist mittlerweile hervorragend. Das sahen Kinder im Großen und Ganzen nicht so, denn irgendwie hatte das Modebewusstsein für Sehhilfen die Schulhöfe nicht erreicht.
Aber auch das änderte sich, denn auf einmal gab es einen Zauberschüler, der eine Brille trug: eine große, dunkle und runde. Also ein Teil, das normalerweise kein Kind freiwillig tragen würde. Doch Harry Potter schaffte, was Generationen von Eltern nicht hinbekommen hatten. Die Kinder trugen ihre Brille auf einmal mit Stolz und freuten sich über den Neid der normalsichtigen Freunde. "Brillenschlange" war auf einmal nicht mehr als Beleidigung zu gebrauchen. Solche tollen Revolutionen werden nicht immer gleich bemerkt – aber die Kinder konnten aufatmen. Wie durch Zauberei ...
© "Als die Brillenschlangen ausstarben": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
Abbildungen:
– oben: "Selbstporträt mit Brille" von Jean Siméon Chardin aus dem Jahre 1775; Lizenz: Public domain
– unten: © Illustration von Thomas Alwin Müller, littleART.
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