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Es ist gar nicht einmal so lange her, da hatte ein deutscher Politiker sich betroffen gefühlt, weil man "wohlhabend" und "arm" nicht mehr so leicht an der Kleidung festmachen kann. Er wollte wohl von diesem primären Unterscheidungsmerkmal nicht lassen. In alten Zeiten sah man tatsächlich sofort, wes Geldbeutels Kind einer war ... zudem gab es zu vielen Zeiten Regeln, was die Kleidung der einzelnen Stände betraf. Adel und Bürgertum hatten sich an Kleiderordnungen zu halten, und Tagelöhner erst recht.
Allerdings war die Herstellung von Kleidungsstücken nicht gerade einfach – so in den wirklich sehr frühen Zeiten. Da musste erst die Faser gesammelt werden, dann ein webbarer Faden gesponnen und dann wohl gefärbt und genäht werden. Viele Arbeitsstunden steckten schon in einfachen Stücken wie gerade geschnittenen Tuniken oder auch Umhängen. Gut gearbeitete Kleidung wurde nicht selten vererbt und war wertvoll. Edle Stoffe mit Metallfäden, importierte Seide oder andere, edle Materialien kosteten Unsummen. Wer sich so etwas leisten konnte, gehörte zu den "oberen Zehntausend" – reiche Kaufleute, Adel oder Klerus.
Heute kann man selbstverständlich immer noch sehr gute Sachen kaufen – aber sie unterscheiden sich in der Optik nicht mehr allzu sehr von den billigeren Waren. Zudem ist der Markt überschwemmt von gefälschten Textilien – und die Käufer wissen durchaus, wieso ihr Shirt mit dem angesagten Label so überaus günstig war. Aber es kommt nicht darauf an – es muss keiner intensiven Prüfung standhalten. Eine Jeans für zwanzig Euro – manchmal schon für zehn – die sieht nicht wirklich viel anders aus als eine Baumwollhose für achtzig Euro. Kaum einer reibt mehr den Stoff eines Kleidungsstückes zwischen den Fingern, um die Qualität zu prüfen. Auf keinen Fall ein junger Mann oder eine junge Frau, die einfach für wenig Geld so stylish wie möglich aussehen wollen.
Cliquen, zu denen keiner Zutritt hat, der das falsche Label am Pullover trägt, gibt es zwar immer noch, allerdings gilt dieser Zwang zunehmend mehr für die kleinen, flachen Kommunikationsmaschinen. Außerdem berühren sich die Kreise der verschiedenen Fraktionen kaum. Wer bei den Discountern einkaufen muss, lebt mit dem etwas klammen Gewissen wegen der Herstellung, die oft in den Händen von ausgebeuteten, sehr jungen Hilfskräften liegt – oder aber er/sie interessiert sich nicht. Da man auch kaum anderswo einkaufen könnte, macht es keinen Unterschied.
Allerdings schützen hohe Preise nicht vor dem Konflikt: es gibt Firmen, die nur für die Bessergestellten produzieren – und das mit denselben fragwürdigen Methoden. Hier können sich die Kunden allerdings aussuchen, wo sie kaufen – ob sie es tun, ist eine andere Sache. Ob der Junge, der da lässig und hochmodisch an ein Geländer gelehnt, mit seinem iPad herumspielt, nun Hartz-IV-Bezieher, Auszubildender, Produktionshelfer oder Student, womöglich auch Kind reicher Eltern ist – dies sieht man auf den ersten und wohl auch auf den zweiten Blick nicht. Am Benehmen kann ebenfalls kaum etwas festgemacht werden. Das ist auch immer gleicher geworden – selbstorientiert und vermeintlich oberflächlich – meist sieht man wegen den Smartphones sowieso selten das ganze Gesicht.
Was man in etwa ausmachen kann, ist die Gruppierung, der er sich zugehörig fühlt ... in etwa jedenfalls. Das gilt auch für die schicke Mittelalterliche, die gerade in einen Drogeriemarkt geht. Kosmetikartikel sind ebenfalls in allen Preisklassen zu haben – und wer kann, bestellt sich schicke Schmucksachen online und zahlt eben monatlich ab. Die Unterschiede, die man verlässlich auf den ersten Blick sah, verschwimmen langsam, aber sicher. Und letztendlich ist das auch gut so. Wer danebengreift in der Beurteilung, ist selber schuld – schließlich machen Lagen von Stoff nicht den Menschen aus. Hat es auch nie, man konnte immer nur die Preisklasse erkennen – man wusste nicht unbedingt, wer da in diesen Kleidern steckte. Man war sich nur über die Stellung desjenigen klar.
Heute verschwimmen die Kleidervorschriften zusehends – der Gärtner trägt Nadelstreifen beim Stadtbummel, während sein Chef in schreiend bunten Bermudas vor dem Brezelstand steht. Das ist eigentlich sehr spannend, und man kann die freundliche Neugierde, was Mitmenschen betrifft, wieder völlig neu entdecken. Um zu wissen, wer einer ist, muss man sich mit ihm befassen. Klingt doch gut.
© "Klamottenordnung: Frau Kaisers neue Kleider": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Illustration Mode, CC0 (Public Domain Lizenz).
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