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Ich liebe es, alte Fotos anzuschauen. Damit meine ich: wirklich alte Fotos. Es müssen auch durchaus keine Menschen darauf sein, die ich kenne. Was mich fasziniert, ist die so präzise Dokumentation unserer Befindlichkeiten.
Wahrscheinlich kennt jeder, der schon etwas länger erwachsen ist, noch Omas Fotokarton. Der war prallvoll mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sonderbarerweise war es fast immer ein Karton oder eine blecherne Lebkuchenschatulle, manchmal eine Kassette aus Metall oder Holz.
Ich weiß noch genau, wie oft ich diese kleinformatigen Fotos mit den gezackten Rändern (ich weiß heute noch nicht, wieso die nicht 'gerade' waren) ansah und mir Großmutters Erklärungen anhörte. Die Gesichter auf den Bildern waren meist starr, so als handelte es sich um Wachspuppen. Als Kind glaubte ich tatsächlich, die Leute wären immer so ernst gewesen.
Eine Ausnahme bildeten die Soldatenfotos, die irgendwo draußen aufgenommen worden waren. Die Männer darauf sahen eher lässig aus, sie grinsten oder taten irgendetwas. Beliebt auch die Bilder mit den Wanderburschen und Mädeln – meist in irgendeine Tracht gekleidete Leute waren das, die mit Rucksäcken und auch Gitarren vor einem malerischen Felsen oder Bach posierten.
Durch das triste Grau in Grau dieser Bilder hatte ich eine eigenartige Vorstellung von dieser abgelichteten Vergangenheit bekommen. Mir schien sie streng und ernst. Man sah bei diesen sorgfältig arrangierten Gruppenbildern auch selten jemanden wirklich lächeln oder lachen. Das Fotografiertwerden war wohl eine bedeutsame Angelegenheit.
Vor allem war es wohl nicht so einfach, wie wir das heute kennen: Bilder schießen, bis der Chip voll ist, und dann viele, viele Aufnahmen schnell auf den PC überspielen. Damals musste man mit den Bildern eher sparsam umgehen. Dann mussten sie entwickelt werden, was mehrere Tage dauern konnte. Wenn man es nicht gerade selber machen konnte.
Meine eigene erste Kamera war in gewisser Weise hochmodern: man musste keinen Rollfilm einfädeln, sondern klickte einfach eine Kassette ein. Blitzwürfel oben drauf und los ging's. Allerdings auch eher vorsichtig – das Taschengeld hielt mit den künstlerischen Anwandlungen selten mit.
Es gab sogar noch Material in Schwarz-Weiß. Das war erst einmal viel billiger (viele Jahre später war es gerade umgekehrt). Ich wollte Menschen fotografieren – und zwar während sie irgendetwas taten. Gestellte Bilder wollte ich eigentlich nicht, die gehörten in Omas Nostalgie-Kiste. Aber da war die Verschlusszeit der billigen kleinen Kamera vor den Anspruch gesetzt. Allerdings gelangen einige recht interessante Aufnahmen, die ich zwar mochte, aber von der Familie schlichtweg unter "völlig misslungen" abgehakt wurden.
Mit der ersten Spiegelreflexkamera änderte sich alles, die digitale Fotografie hat uns ein Fotoparadies erschlossen. Dafür aber sind die Aufnahmen, die überall und immer geschossen werden, kaum geeignet, jemanden wirklich anzusprechen. Und kaum jemand sieht sie sich richtig an. Hier ein Selfie, da das Frühstück oder sonst etwas völlig Banales wird abgelichtet, um im Internet zu erscheinen und kurz darauf völlig aus jedem Gedächtnis zu verschwinden.
"Kuck mal, was ich grad mache/tue und wie ich gerade aussehe, und in fünf Minuten zeig ich dir, wie ich dann aussehe." Spaßig kann das schon sein – es ist eben möglich, einen Moment des Lebens einzufrieren und zu reloaden. Und den nächsten Moment auch, und dann wieder einen, und kurz auf die Aufnahmen sehen, die der Freund oder die Freundin gemacht haben. Aber wirklich nur kurz, weil man schon wieder für ein neues Lebenspartikelchen posiert: also für ein Selfie.
Wie viele Welten liegen zwischen einem schnell gemachten Shot, der zeigt, wie jemand die Zunge herausstreckt, um das neue Piercing zur Geltung kommen zu lassen, und den Männern mit Schnauzbart oder den Frauen mit langen Röcken, die ernsthaft vor einem sorgfältig gewählten Hintergrund posieren. Solch ein Foto wurde über viele Jahre aufbewahrt oder auch gerahmt und aufgestellt bzw. aufgehängt. Es gehörte dazu, zeigte etwas lange Vertrautes. Irgendwann landete es dann auch in einer Schachtel und begann mit dem Verbleichen, wie sich das gehört. Bis irgendein Enkelkind wieder fasziniert diese vergangene Welt betrachten würde.
Zwischen den Fotos, die in der Drogerie landeten zum Entwickeln, und den Selfies gab es irgendwann einmal die Polaroid-Kameras. Diese machten meist schlechte Bilder, die allerdings nach einer Minute bewundert werden konnten, da sie sich mittels einer integrierten Chemikalie selbst entwickelten. Unnötig zu sagen, dass so ein Film fürchterlich teuer war – und außer dem Spaß des "gleich gucken können" nicht viel zu bieten hatte. Außerdem bleichten diese Bilder weitaus schneller aus als das Foto mit Onkel Franz in Uniform um 1920. Aber – das Prinzip stand.
Es wird interessant sein, zu erleben, was als nächstes kommt. Bewegte und/oder dreidimensionale Bilder motten gerade ihre Kinderschuhe ein. Und vielleicht zeigt irgendwann in ferner Zukunft ein Großvater seinem Enkelkind diese antiken Handybilder – die, wo "sich gar nichts bewegt, Opa". Und überhaupt sehen die Leute da ziemlich bescheuert aus, denkt sich der Kleine.
© Textbeitrag "Nostalgie: Alben in Schwarz-Weiß" sowie Foto unten (Sicht auf die Burg Trausnitz, Landshut) Winfried Brumma (Pressenet), 2014. Foto oben: "Selbstporträt der Dame" von Tsukiakari, Quelle: Wikipedia (Unidentified woman taking her own photograph using a mirror and a box camera, roughly 1900), lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.
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