|
Eigentlich bin ich ein sehr ordentlicher Mensch, weswegen mich manche Kleinigkeiten sehr stören. Es geht wirklich nicht um wichtige Dinge, aber ich fühle mich wirklich genervt, wenn ich auf dem Weg zu meinem Auto noch einmal das Hemd richtig in den Bund stopfen muss oder das vermaledeite Bett sich nicht zähmen lassen will. Irgendwie will die Bettdecke nicht mehr richtig passen, weil der Überzug plötzlich einige Zipfel zu viel hat.
Das ist ärgerlich und man möchte sich eigentlich nicht damit befassen, weil man eigentlich längst das Haus verlassen haben sollte, um zur Arbeit zu fahren. Also lässt man den Kram, so wie er ist, nur um mich spätabends dann doch wieder damit herumzuschlagen. Wenn man hundemüde ist und – wie alle müden Menschen – hochsensibel auf so etwas wie eine verdrehte Bettdecke reagiert.
Es ist unmöglich einzuschlafen, wenn sich die Decke zu einer harten Rolle zusammenballt, weil ihre vier Zipfel die dafür vorgesehenen Ecken des Bettbezuges verlassen haben und sich fröhlich auf Wanderschaft begeben. Andererseits will man auch nicht noch einmal das warme Bett verlassen, um mitten in der Nacht die ganze Sache in Ordnung zu bringen. Das hieße nämlich: runter mit dem Bezug und alles neu einzipfeln.
Vor einigen Tagen – oder besser gesagt: Nächten – schlug ich mich wieder einmal mit dieser schweren Entscheidung herum. Unter der knülligen Decke war ich schweißgebadet, hatte aber trotzdem kalte Füße – denn durch das Malheur mit dem zur Zwangsjacke mutierten Bettbezug lagen sie völlig im Freien. Mittlerweile war ich dann auch wieder glockenwach, was erklärt, wieso meine Sinne soweit geschärft waren, dass ich eine Anwesenheit im Schlafzimmer spürte. Außer meiner eigenen natürlich.
Eigentlich hätte mir das Angst machen sollen, aber durch meine nervliche Anspannung war ich eher wütend als ängstlich und tastete nach dem Schalter meiner Nachttischlampe, den ich erstaunlicherweise sofort fand, was keineswegs immer so ist. Und dann war es endgültig aus mit Schlafen, denn zwei Schreie störten die Nachtruhe erheblich. Einen hatte ich ausgestoßen, der andere kam von einem Mann, der sich am Fußende des Bettes befand und in leicht gebückter Stellung verharrte – den Mund noch immer aufgerissen.
Man besitzt wahrscheinlich keine große Autorität, wenn man mit verwuschelten Haaren, einem alten T-Shirt und völlig übermüdet im Bett sitzt. Wahrscheinlich hat man in diesem Zustand sehr geringe Aussichten, einen Einbrecher in die Flucht zu schlagen. Aber der zu Tode erschrockene Kerl da in meinem Schlafzimmer sah eigentlich nicht wie ein Krimineller aus. Eher wie ein großäugiger und spitznasiger Bindfaden. Ein wie Espenlaub zitternder Bindfaden sogar. Ich hörte erstaunt, wie von meinen eigenen Lippen ein sehr sonderbarer Satz kam. Nicht etwa einer wie: "Verlassen Sie sofort mein Haus oder ich rufe die Polizei!", oder vielleicht: "Mach die Fliege, du Opfer!", sondern tatsächlich dieser: "Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
Der sonderbare Kerl sah mich maßlos erstaunt an und zitterte dann so entsetzlich, dass ich aus dem Bett sprang, um ihn in der Senkrechten zu halten. Unter Gebrummel wie: "Na na, beruhigen Sie sich erst einmal, so schlimm kann es ja nicht sein", und ähnlichem Unsinn zerrte ich das Nervenbündel in die Küche, um für uns beide einen Kaffee zu machen.
Das helle Licht der Küchenlampe zeigte mir den willenlos auf einen Stuhl sinkenden, zitternden Kerl dann endlich genau. Etwas größer als ich – einen Meter achtzig – aber dafür sehr viel dünner. Sonderbar angezogen, sehr enge Hosen und tatsächlich so eine Art Frack. Sie kennen die Dinger mit den langen Zipfeln hinten? Sein schmales Gesicht mit einer ebenso schmalen, sehr gebogenen Nase erinnerte mich vage an einen Falkenschnabel oder so etwas in der Art. Mit seinen buschigen Brauen über großen, melancholisch dreinschauenden, blauen Augen sah er bis auf den Frack wie eine dieser Kasperlpuppen aus, die es früher gab. Sein Kinn konnte sich nämlich auch sehen lassen – aber der Eindruck entstand wohl durch diese Mütze, die er trug. Eine lange, lange Zipfelmütze war es. Weiß mit matten, grauen Punkten. Sah zu seinem übrigen Stil sehr bescheuert aus.
Während ich ihm seinen Kaffee hinstellte, den ich ohne vorher zu fragen mit vier Stück Zucker und einem ordentlichen Schuss Sahne gewürzt hatte, fragte ich ihn: "Also wer sind Sie nun und was zum Teufel wollen Sie von mir?" Kasperl hatte seine sehr langen, mageren Finger um den Kaffeebecher gelegt und nahm einen Schluck. Augenblicklich bekam er rote Bäckchen und glänzende Augen, hustete leicht und stellte sich dann vor. "Zipfel", sagte er. Mich wunderte nicht wirklich, dass der ganze verzipfelte Kerl auch noch so hieß wie er aussah, schließlich war die ganze Sache völlig verrückt. Aber es kam noch sehr viel besser, denn Herr Zipfel erzählte mir von seinem Beruf. Er gehörte – wie er kaffeeschlürfend erzählte – zu den so genannten Plagegeistern.
Ich hatte irgendwo einmal gehört, dass man Irren nicht widersprechen soll und schenkte ihm schweigend nach, als er mir bittend seinen leeren Becher hinhielt. Zucker und Sahne schob ich ihm in Reichweite und sah wohlwollend zu, wie er sich großzügig bediente. Dass er noch nie Kaffee getrunken hatte, glaubte ich ihm sogar, als er es sagte. Es beunruhigte mich ein wenig, denn man konnte ja nicht wissen, was das Koffein bei dem dürren Kerl bewirken würde. Der Mann erzählte nicht an einem Stück – er verzettelte bzw. verzipfelte sich beim Erzählen dermaßen, dass ich ihn anschnauzen musste, damit er den Faden nicht andauernd verlor.
Was dabei herauskam, war das bekloppteste, das ich jemals gehört hatte. Und auch wieder nicht, denn was Herr Zipfel da erzählte, klang auch irgendwie logisch. Es gibt also – glaubt man Kaffeekasperle – verschiedene Plagegeister, und zwar so lange, wie es Menschen gibt. Ihre Aufgabe ist es, uns ein wenig zu piesacken – nicht wirklich zu verletzen oder ernsthaft zu stören – es hat mehr (hier bekam Herr Zipfel einen etwas schulmeisterlichen Ton) mit Lernen zu tun.
Herr Zipfel war, wie der Name schon sagte, für Zipfel zuständig. Wo Mütter an ihren Kinder herumzupfen, weil hier oder da etwas herumflattert oder absteht, war Herr Zipfel zugange. Er machte den Schick einer Seidenbluse zunichte, er verpasste akkuraten Frisuren einen verspielten Touch, und er kümmerte sich um Bettdecken und Laken. Wieso das Letztere etwas mit Lernen zu tun haben soll, verstehe ich heute auch nicht besser, aber unterbrechen wollte ich Zipfel nicht. Er hatte sich so schön in Begeisterung geredet. Mir wollte er die schweißgebadete Anstrengung im zerknüllten Federbettkokon als eine Art Zen-Übung in Sachen Entscheidungen treffen verkaufen. Na wer's glaubt. Er selber wohl auch nicht, denn seine Ausführungen wurden immer leiser und gewissermaßen lebloser, so als wenn er sich nicht mehr ganz sicher über seine Bedeutung wäre.
Dann kam er mit der ganzen Sache heraus. Eigentlich war Herr Zipfel ja auf dem Weg zur alljährlichen Verleihung des Preises für besonders hohe Verdienste um die Plagegeisterei gewesen (eine Art Oscar für Kobolde oder so), als er durch mein Schlafzimmer kam und noch ein wenig arbeiten wollte. Außerdem, so schniefte er, hatte er es durchaus nicht eilig. Denn seit Jahren ging der begehrte Preis immer an ein uns dieselbe Person. "Madame Fussel", knurrte Herr Zipfel und zog seine buschigen Brauen zusammen. Diese Person war allgegenwärtig, arbeitete sozusagen im Akkord. Wie ihr Name vermuten ließ, waren Fusselchen ihr Metier: sie verteilte auf Samtjacketts, dunklen Abendkleidern, Möbeln und wo immer sie sich befand, Fussel über Fussel. Seit es das Schwarzlicht gab, war sie zum Star geworden – denn in Discotheken und ähnlichen Schuppen konnte man ihre Arbeit bis ins kleinste Detail bewundern und würdigen. Sie erzog die Menschen zu Sauberkeit und Reinheit, wie sie selber von sich behauptete – doch Herr Zipfel sagte in traurigem Ton, dass Madame die Menschen nicht mochte und ihre Arbeit einfach deshalb so gut machte, weil sie gerne Streiche spielte. Angewidert schüttelte der Bindfadenkasperl den Kopf und bat um mehr Kaffee.
"Früher", so sinnierte er, "da war Frau Wollmaus die Favoritin. Unter den Betten, Schränken, Tischen und in allen Ecken konnte man die Früchte ihrer Arbeit sehen – sie war einfach großartig." Der Karriere der Guten hatte die Erfindung des Staubsaugers einen Riegel vorgeschoben. Seitdem war sie nie wieder zu ihrer früheren Form aufgelaufen, wie mir Herr Zipfel sagte. Die gute Wollmaus war eine nette Person, wie ich dann weiter hörte – mit ihren Erzeugnissen spielten die Katzen, und die Hausfrauen fühlten sich wichtig und fleißig, wenn sie in freundlichem Wettstreit mit dem Fleiß der guten Frau Wollmaus traten. Ach ja, aber die Zeiten ändern sich eben – auch für Plagegeister. Die im übrigen nur so heißen, weil die Menschen sie als Plage empfinden ... nicht weil sie wirklich eine wären, eine Plage.
Ob er denn keine Freunde habe, fragte ich irgendwann nach der zweiten Kanne Kaffee. Da lächelte Herr Zipfel und nickte ernsthaft. "Aber ja, mit Herrn Knoten verbindet mich eine tiefe, brüderliche Zuneigung." Dieser Herr wurde mir dann als dick, gemütlich und gutmütig geschildert. Er übertrieb es nicht mit Arbeitseifer, aber immerhin war er zur Stelle, wenn es um Knoten ging. Schnürsenkel mal wieder untrennbar verknotet? Sein Werk. Wo immer sich Leinen, Stricke, Tücher, Wolle oder sonst etwas verheddern und verschlingern konnten, war er am Werk. Er lehrte die Menschen Geduld und ... er half ihnen auch. Denn nicht alle Knoten sind ungewollt. Es ging, wollte ich Zipfel glauben, etwa fifty-fifty aus. Allerdings war dieser Herr Knoten nicht sehr ehrgeizig. Ihm reichte es, seinen Job gut zu machen und seinen Lehrauftrag ernst zu nehmen. Mehr so der Typ Dorfschullehrer mit bärbeißigem Humor.
Langsam fragte ich mich dann aber doch – ich wurde ziemlich müde mittlerweile – wieso Zipfel sich so über das Zipfeltreffen ... pardon ... Gipfeltreffen aufregte. Mit noch einem weiteren Becher Kaffee leierte ich dem dürren Kerl dann die Wahrheit heraus. Zipfel fühlte sich unwichtig – verkannt und überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Was seine Klamotten betraf, hatte er da durchaus recht, was ich aber nicht laut sagte. Der Mann war gebeutelt genug. Mein koffeinumnebeltes Gehirn suchte nach irgendetwas Tröstendem, das ich Zipfelchen sagen konnte, und tatsächlich spuckte das interne Terminal etwas aus.
"Herr Zipfel", begann ich, "natürlich hat Herr Knoten dieser Fusseltante etwas voraus. Und Sie natürlich auch. Sie beide werden von den Menschen geschätzt. Davon kann Madame Fussel doch nur träumen. Höchstens einmal, dass sich ein Kriminalbeamter über einen Fussel für die Forensik freut. Sonst will ja keiner etwas mit ihr zu tun haben. Ganz gleich, wie viele Preise sie gewinnt – niemand mag sie."
Herrn Zipfels Aufmerksamkeit war völlig auf mich gerichtet – sogar der Kaffeebecher verharrte auf halbem Weg zum Mund, als ich fortfuhr: "Ist Ihnen klar, dass findige Designer sogar kleine Klammern in Obst- oder Blumenform erfunden haben, um die Zipfel der Tischdecken damit zu betonen? Wissen Sie denn nicht, dass die Zipfelmütze für Humor, Spaß und verschmitzte Klugheit steht? Ach, und Herr Zipfel, kennen Sie denn nicht den Spruch vom Zipfel des Glücks? Den möchte doch nun wirklich jeder einmal erhaschen. Also sind Sie ein gefragter und geschätzter Mann – weit über Ihr Lehramt für Ordnung und Unordnungsverhütung hinaus."
Herr Zipfel starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dann zitterten seine Lippen und ich sah erschüttert, wie aus je einem seiner großen Kinderaugen eine Träne über die eingefallenen Wangen kullerte. Er nahm den letzten Schluck aus seinem Becher, setzte ihn dann ab und schnellte von seinem Stuhl hoch, um mich zu umarmen. So etwas hatte ich halb und halb erwartet, war aber zu müde, um noch rechtzeitig ausweichen zu können. Seine langen Arme schlossen sich um mich, was tatsächlich kaum spürbar war und gar nicht unangenehm. Das liegt wohl daran, dass Herr Zipfel nicht ganz zur stofflichen Welt gehört. Jedenfalls war mein Besucher von neuer Energie erfüllt – inwieweit das an der Überdosis Koffein lag, kann ich nur vermuten – und machte einen zufriedenen Eindruck. Er schüttelte mir mehrmals die Hände und versicherte mir, seinem Freund Knoten von mir zu erzählen. Als ich ihm dann noch ein Pfund Kaffee überreichte, musste er sich vor Rührung in sein riesiges, zipfeliges Taschentuch schnäuzen, bevor er dann verschwand. Er wurde blasser, wurde zum Schemen und war nicht mehr zu sehen. Ich verzog mich unter meine wie durch Zauberhand völlig unverzipfelte Bettdecke und schlief bis zum Morgen durch.
Das ganze muss natürlich ein verrückter Traum gewesen sein, wenn ich auch schwören könnte, dass ich noch eine Packung Kaffee zur Reserve im Schrank hatte und die jetzt verschwunden ist. Außerdem – die Sache mit den Zipfeln und der Bettdecke, die ist mir seit dieser Nacht nie wieder passiert. So, als wäre der Bettbezug jetzt zipfelabweisend. Sonderbar.
© "Herr Zipfel, der Plagegeist. Eine verzipfelt wahre Geschichte": Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2014, ... gewidmet meinem Lieblingsautor Matthias Zipfel. Bildnachweis: Frosch im Bett, CC0 (Public Domain Lizenz).
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed