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Teil III: In der Klinik
Zuhause war es erst einmal wirklich toll – vor allem deswegen, weil Mam eine ganze Woche schulfrei herausgeschlagen hatte. Von "herausschlagen" wollte sie zwar nichts hören, schließlich war mit einer Gehirnerschütterung ja nicht zu spaßen. Auch nicht, wenn es eine leichte war. Aber Mal fand es so oder so großartig. Sein Zimmer war mittlerweile ziemlich gemütlich geworden – und er wurde so richtig verwöhnt. Zwar hatte Mam den Stecker am PC gezogen, aber das störte den Patienten eigentlich nicht. Es war sowieso schöner, zu dösen, wenn er wollte, oder sich mit seiner Mutter zu unterhalten ... ganz so wie früher.
Diana tat es sichtlich leid, dass sie die Probleme mit "der Scherlich" nicht ernst genommen hatte – und als Mal ihr dann doch alles über Justus und seine Gefolgsmannschaft erzählte, holte sie tief Luft. "Wir sehen zu, dass du die Schule wechselst." Das erstaunte Malcolm, er hatte erwartet, dass Mam mit Durchhalteparolen kommen würde. So in der Art: "Das wird sich schon einspielen – du bist eben neu an der Schule." Und dann fiel ihm der Rektor ein, den hatte er völlig vergessen gehabt. Aber als er danach fragte, wie das Gespräch denn gelaufen war und das alles, da verhielt sich seine Mutter sonderbar. "Ich muss jetzt noch ein bisschen was arbeiten, schließlich ist bald Eröffnung, Mal. Schlaf jetzt noch ein wenig bis zum Abendbrot. Mach dir keine Gedanken, Schatz."
Dann hatte sie das Tablett mit der leeren Tasse gegriffen und war draußen, bevor Mal noch einmal nachfragen konnte. Und das war wirklich sonderbar – denn so wie er Mam kannte, hätte sie es kaum erwarten können, alles haargenau zu erzählen – und das mehr als einmal. Es sein denn ... es sei denn, es wäre anders gelaufen, als sie sich das gedacht hätte. Als Mal sich das vorstellte, spürte er wieder so ein leises Angstgefühl im Bauch. Nicht wirklich schlimm – etwa so, als wenn man beim Zahnarzt darauf wartet, dass das Geräusch des Bohrers einsetzt.
Er musste wohl eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, war es im Zimmer schon viel dunkler als vorhin gewesen. Malcolm war noch ein wenig verwirrt. Er hatte keine Ahnung, wie spät es sein könnte – aber von unten hörte er Stimmen. Seine Mutter war es auf jeden Fall – und noch eine Frau. Vielleicht Linda, die Verkäuferin aus der Bäckerei? Die kam fast jeden Tag vorbei, um sich nach Mal zu erkundigen. Der hatte nichts dagegen, er mochte die Frau recht gerne – außerdem brachte sie immer etwas Süßes mit, was Mal sehr schätzte. Sie kam kurz hoch, wuschelte ihm durch die Haare und ging dann wieder mit Mam nach unten, um ihr zu helfen. Diese Linda war sehr geschickt beim Renovieren, sie hatte – wie Mam sagte – einen richtig praktischen Verstand. So genau war Malcolm nicht klar, was damit nun eigentlich gemeint war, aber er konnte sich vorstellen, dass Frau Kabitzke, also Linda, beim Anpacken weniger schusselig war als Mam. Malcolm musste grinsen, als er daran dachte, wie seine manchmal recht chaotische Mutter mit Werkzeug umging. Es war nicht so richtig "ihr Ding", wie sie auch selber gerne sagte.
Wenn Mam mit dem Metermaß hantierte, konnte man sicher sein, dass es dann hinterher nicht passte. Ganz egal, ob darum ging, festzustellen, ob der neue Schrank dahin passen würde, wo der alte noch stand, oder ob das Paket die richtigen Maße hatte für den Versand. Mam verschickte oft ihre Waren an Kunden – aber zur Sicherheit kümmerte sich Malcolm um den "Paketdienst", jedenfalls was das Messen betraf. Gleich am ersten Tag, als Linda geholfen hatte, war Diana voll Bewunderung gewesen. Mal hatte das Geschimpfe wegen dem "verflixten" Malerkrepp bis in sein Zimmer gehört. "Das irrsinnig teure Zeug taugt nur zum Zusammenkleben, sobald man es anpackt", hatte Mam gezetert. Und dann hatte sie fassungslos zugesehen, wie Linda die Kanten akkurat mit der Rolle hingekriegt hatte – einfach, indem sie den Silikonfensterabzieher genommen und an die Kante gesetzt hatte. Ganz ohne Krepp. "Das hättest du sehen sollen, Mal – auf die Idee muss man erst mal kommen." Für Diana waren solche Sachen bewundernswert.
Linda hatte gelacht und freimütig zugegeben, dass sie von den Sachen, mit denen Mals Mutter ihr Geld verdiente, absolut keine Ahnung hatte. Aber sie kam gut mit Mam klar, wahrscheinlich waren die beiden auf dem besten Weg, dicke Freundinnen zu werden. Mal freute sich für Mam, wenn er auch irgendwie neidisch war. Hier in diesem Kaff gab es wohl kaum Jungs oder auch Mädchen, die für ihn als Freunde in Betracht kamen. Und dass es keine Chance gab, wieder mit den Kumpels in Berlin zusammenzukommen, war ihm mittlerweile klar. Außerdem – die hatten ihn ziemlich schnell vergessen. Wer brauchte die schon. Kaum mal sechs Wochen hier und keine einzige SMS mehr, und schon gar kein Anruf. Mal fand, dass richtige Freunde so was nicht machen sollten. Dabei hatte er selber keine Messages mehr geschrieben, wie er wohl wusste. Aber diese Tatsache überging Malcolm Strattner großzügig – denn er war ja derjenige, der unfreiwillig fortgegangen war und daher so etwas wie Trost brauchte.
Mal schob sich unter der Decke hervor, um in das kleine Bad gleich nebenan zu gehen und um sich bemerkbar zu machen. Er hatte ziemlichen Hunger bekommen, wahrscheinlich war es längst Zeit für das Abendessen. Als Mal die angelehnte Zimmertüre aufdrückte und auf den kleinen Flur getreten war, wollte er nach unten rufen. Aber gerade in diesem Moment hörte er Mam sagen: "Und ob du es glaubst oder nicht, dieser Mensch hat diese Person auch noch verteidigt. Hat gesagt, dass sie richtig reagiert hätte, weil sie ja nicht wissen konnte, was passiert war. 'Die Kollegin Scherlich hat sich nach dem sich bietenden ersten Eindruck verhalten und das meiner Meinung nach völlig korrekt', hat er gesagt. Linda, bitte. Dass jeder Idiot sieht, dass nichts in Ordnung ist, wenn jemand blutend auf dem Boden sitzt, hat er mit einer Handbewegung abgetan. Sag mal, Linda – das ist doch krank, oder?"
Malcolm blieb wie angewurzelt stehen. Er war ganz sicher, dass es um das Gespräch mit dem Rektor ging. Hörte sich nicht so an, als wenn es der Brüller gewesen wäre. Und es würde erklären, wieso Mam ihm vorhin ausgewichen war, als er danach gefragt hatte. Unten sprach Linda Kabitzke beruhigend auf Mals Mutter ein. "Das hätte ich dir gleich sagen können, dass der so reagiert. Das wundert mich überhaupt nicht. Und auf die Scherlich lässt der sowieso nichts kommen. Das ist hier so – du bist nicht die Erste, die sich beschweren will über die. Aber das bringt nix, Diana. Die halten zusammen." Linda redete weiter, und Mal erfuhr so, dass auch die nette Verkäuferin eine "Zugezogene" war. Seit vier Jahren lebte sie hier, und drei Jahre arbeitete sie in der Bäckerei. Deshalb kriegte sie so manches mit, das gesprochen wurde.
"Mein Mann ist hier geboren und aufgewachsen, musst du wissen, Diana. Vor etwa fünf Jahren wurde mein Helmuth krank, er konnte nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Er war ja Fernfahrer, weißt du. Na, und da dachte er, wir würden uns hier, in seiner Heimatstadt, wohlfühlen. Also sind wir hierher gezogen. Am Anfang war es ja noch ganz gut, ich kriegte nicht alles so mit, weil ich mich ja um meinen Mann kümmern musste. Aber als er dann nach einem Jahr plötzlich starb, mein Helmuth, weil sein Herz nicht mehr mitmachen wollte, da konnte ich nicht einfach so fort. Wo er doch so an dem Kaff hier gehangen hatte."
Malcolm, der gespannt lauschte, war begeistert. Linda hatte "Kaff" gesagt. Dazu war sie auch fremd hier. Er entschloss sich, Frau Kabitzke als Freundin zu betrachten. Zumindest aber als Leidensgenossin. Mams gemurmelte Beileidsbezeugungen interessierten den kleinen Lauscher nicht weiter – er wollte lieber wissen, was Frau Kabitzke noch zu erzählen hatte.
"Tja", sagte die da gerade, "ich wollte also nicht weg und konnte ein bisschen Geld mehr schon gebrauchen. Also fing ich in der Bäckerei an, ich bin ja Verkäuferin. Und das mach ich jetzt seit drei Jahren. Und weil ich jeden Tag die ganzen Schulkinder und natürlich auch die Erwachsenen des Viertels erlebe, sage ich, dass das hier eine sonderbare Stadt ist ... "
© "Malcolm – Frau Kabitzke": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2014. Bildnachweis: Portrait Augen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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