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Der Alte saß auf seinem Lieblingsplatz am Fenster – da, wo er auf die Straße sehen konnte. Das "Spazierengucken" war im lieb geworden, denn die Beine versagten oft den Dienst. Heute war die Tochter zu Hause geblieben, denn sie wartete auf die Spedition. Sonst war sie ja "auf Arbeit", wie sie immer sagte. Aber heute hatte sie sich freigenommen.
Mitten in der Küche stand der alte Kühlschrank, schon gelblich geworden vom Alter und ziemlich wuchtig. Auf der Türe prangte das Logo einer bekannten Firma – das Stück war einmal ziemlich teuer gewesen. Jetzt sollte er raus, der alte Kühlschrank. Der alte Mann sagte immer noch dieses Wort, obwohl man ihm oft gesagt hatte, dass es sich um eine "Gefrierkombi" handelte. Ein Neuer würde kommen ... weiß und schlank, er hatte ihn gesehen auf dem Bildschirm des Enkelsohnes, der sich gut auskannte mit Computern und dem Internet.
"Der ist viel billiger, kostet nicht soviel Strom, Vater", hatte die Tochter gesagt. Und dass das alte Ding auch viel zu laut sei, hatte sie noch gemeint. Das stimmte, das leise und stetige sanfte Schnarchen des Kühlschranks war etwas, das man gewohnt gewesen war. Nicht ganz so laut wie die alten Kompressorkühlschränke gewesen waren, aber immerhin hörbar. Der Alte lächelte, denn plötzlich hatte das Gerät immer öfter eine Art heiseren Husten hören lassen, fast genau wie sein eigenes, trockenes Altmännerkeuchen.
Der Mann hatte heute sonderbare Gedanken, jedenfalls fand er das. Er fragte sich, wohin man die alte "Gefrierkombination" wohl bringen würde. Und – dieser Gedanke kam plötzlich und sonderbar beängstigend – gab es einen Friedhof für Kühlschränke? Dieses alte Ding konnte wohl kaum noch weiterverwertet werden, oder?
Sie waren nie reich gewesen, bei Gott nicht. Aber sie hatten ihr Auskommen gehabt – wenn auch meist nichts überblieb. Das Teil, das heute fortgebracht werden sollte, war eine größere Anschaffung gewesen. Die Marke war gut – auch wenn der Enkel immer grinste, wenn der Alte sagte, dass Qualität sich eben bezahlt macht. Aber das Ding hatte ja wohl lange genug gehalten, oder etwa nicht?
Er hatte den Schnarcher mitgebracht, als er zur Tochter zog, nachdem seine Frau gestorben war. Eigentlich war man ja sogar dankbar gewesen erst mal, denn die Zeiten waren nicht so gut und der einfache Kühlschrank, der hier gestanden hatte, war nur mit einem kleinen Gefrierfach ausgerüstet. "Keine Ge-frier-kom-bi", dachte der Alte. Und wunderte sich über den Trotz, den er heute spüren konnte. Die Tochter und der Schwiegersohn waren gut zu ihm – die Jahre, die er hier wohnte ... fünf mussten es jetzt sein ... hatte es ihm an nichts gefehlt.
Anfangs hatte er sich ja noch nützlich gemacht, es gab da einiges, worauf er sich verstand – der Mann der Tochter fuhr Schichten und war nicht so oft daheim. Der Alte reparierte Dinge und kümmerte sich um den kleinen Garten, ab und an kochte er für die Familie, das hatte er immer gerne getan. Aber seit einem Jahr konnte er nicht mehr viel tun – im Garten arbeiten schon gar nicht. Er war Straßenbauer gewesen, und jetzt machten ihm seine Knochen die Rechnung für die lange Schufterei.
Seit Wochen versuchte die Tochter, mit ihm zu reden – schlich um den heißen Brei herum, wollte ihn nicht aufregen. Der Enkel wollte mit seiner Freundin zusammenziehen – vorerst konnte man sich keine Wohnung leisten. Der Alte verstand das – er war nicht böse deswegen. Ihm gefiel der Gedanke an ein Altersheim aber so wenig, dass er jedes Gespräch darüber blockierte.
Der Alte wusste, dass es hier nicht um "Abschieben" ging. Er wusste auch, dass man ihn nie gegen seinen Willen hier fortschicken würde – es tat ihm auch leid deswegen. Aber in ein Heim wollte er nicht. Davor hatte er Angst. "Leute in deinem Alter, Vater, das wäre doch etwas für dich. Hier bist du so oft alleine – das weiß ich doch." Was die Tochter sagte, wollte er nicht hören. Dabei hatte er schon darüber nachgedacht, dass er keine Freunde mehr hatte ... sie waren entweder tot, in einem Altersheim, oder so wie er kaum noch mobil. Trotzdem – das hier war seine Familie. Früher war man auch etwas mehr zusammengerückt, wenn die Familie größer wurde.
"Er ist so stur", hatte die Tochter zu ihrem Mann gesagt. Der Alte hatte es gehört, und er hatte auch gehört, dass sie weinte ... weinte, weil sie sich schuldig fühlte und doch ihrer eigenen Familie verpflichtet.
Es schellte an der Haustüre, und das Geräusch ließ den Alten zusammenfahren. Dann ging es schnell – zwei Männer in blauen Overalls mit einem Aufdruck, den er nicht lesen konnte, weil seine Augen schlechter geworden waren, kamen in die Küche und tauschten die Geräte aus.
Der "Neue" sah gut aus – richtig schmuck. Die Tochter wuselte glücklich herum und räumte Sachen hin und her. Aber als die Männer den alten, gelblich gewordenen Kühlschrank nach draußen trugen, musste der Alte sich zusammenreißen, damit er nicht aufschrie. Es war, als trugen sie einen Freund oder Verwandten weg – oder lange Jahre seines Lebens. Das glänzende, weiße Gerät, das nun in der Ecke stand, wo der Schnarcher vorher seine Geräusche gemacht hatte, lief lautlos. Wirklich lautlos. Und dem Alten war zum Weinen zumute, weil die Lautlosigkeit so kalt war.
Den ganzen Restnachmittag rührte er sich nicht von seinem Fensterplatz weg, die Hände auf den Küchentisch gelegt und den Blick auf die weiße Herrlichkeit gerichtet. Die Tochter merkte es nicht, oder gab vor, es nicht zu merken. Aber der alte Mann dachte an Abschiede, die er erlebt hatte – und er fand, dass diese ihm so vertraut gewesene Wohnküche völlig verändert aussah. Und dann kam ihm ein anderer Gedanke.
An diesem Abend sprach er die Familie beim Abendessen auf einen Umzug in ein Heim an – und er hörte diesmal zu. Und nickte, lächelte, hörte weiter zu. Das strahlendweiße neue Gerät sah er nicht mehr an, vermied es, den Blick darauf zu richten.
"Wer weiß, wie lange das Ding hält", dachte er. "Ich will mich erst gar nicht daran gewöhnen."
© "Der Schnarcher und der Alte am Fenster": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2014. Bildnachweis: Eiszapfen am Haus, CC0 (Public Domain Lizenz).
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