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Es ist alles so trostlos geworden, meine Welt zeigt sich grau in grau. Wann es so geworden ist, weiß ich nicht mehr, es scheint schon lange so zu sein. Es ist, als wäre ich in einem dieser körnigen, alten Filme in Schwarzweiß, die nie in richtiger Geschwindigkeit ablaufen. Nur, dass mein Film hier langsam ist, sehr langsam. Jeder Tag ist wie ein Tümpel, den ich durchqueren muss, dunkelblaugraues Wasser, in das kaum Licht fällt.
Ich stehe auf und gehe hinüber zu den Kinderzimmern, sehe auf die Jungs hinunter und weiß, dass ich sie jetzt für die Schule wecken muss. Aber es fällt mir so unsagbar schwer, auch nur die Hand zu heben, um die kleinen Schultern anzustupsen.
Das Geschirr hat immer geklappert, aber das tut es nicht mehr – vielleicht bin ich geschickter geworden mit der Zeit – oder ich habe mich daran gewöhnt. Gerhard hat sich immer darüber aufgeregt, wenn es so geklappert hat. "Du bist 'ne ungeschickte Kuh", hat er oft gesagt. "Glaubst du denn, das Zeug kostet nichts?" Er hat es auch vor den Jungens gesagt, und die haben ihre Köpfe in ihre Cornflake-Schüsselchen gebeugt und so getan, als ob sie es nicht hören würden. Aber jetzt ist er ruhig geworden, ich höre solche Dinge nicht mehr von ihm.
Er muss vor den Kindern das Haus verlassen. Sobald er weg ist, sammle ich das Frühstücksgeschirr ein und passe auf, dass meine Jungs auch alles mitnehmen, was sie brauchen. Micha ist zwölf, aber seine Sachen vergisst er oft. Er mag es nicht mehr, wenn ich ihn umarme, deshalb fahre ich ihm durchs Haar, wenn er die Haustüre aufmacht, um hinauszustürmen. Das darf ich noch, wenn auch vielleicht nicht mehr lange.
Mein kleiner Olli wirft die Arme um mich, er flüstert mir kleine, schöne Sachen ins Ohr. Er will nicht, dass sein Bruder es hört, wenn er sagt, dass er mich lieb hat. Micha wird sonst wieder "Mamas Liebling" zu ihm sagen.
Es tut weh, wenn die beiden fortgehen, das weiß ich. Aber ich fühle es nicht mehr, vielleicht bin ich zu müde dazu. Vielleicht hat mich das Putzen und Kochen so müde gemacht, das Saubermachen und das Zuvorkommen. Als ich dieses Wort denke, fährt es mir wie ein brennender Schmerz durch die Brust. Es brennt und ist doch, als hätte mich ein Eiszapfen getroffen ... kann es brennende und zugleich eiskalte Schmerzen geben? Ich weiß es nicht mehr – aber dann erinnere ich mich. Wenn Gerhard nach Hause kommt, sieht er hin. Er sieht immer hin, sehr genau. Ich weiß es jetzt wieder. Sobald die Jungens fortgegangen sind, muss ich am Zuvorkommen arbeiten. Kein Staub, nichts liegt herum – sein Blick darf nicht andocken an irgendetwas, das ich vergessen habe, sonst passieren Dinge. Ich kämpfe mich durch die Wohnung wie durch fließendes Wasser, als ich versuche, mich daran zu erinnern, was geschehen kann, wenn ich ihm nicht zuvorkomme.
"Du bist ja verrückt, du dämliches Stück!" Das schallt ganz nah an meinem Kopf, aber niemand ist da. Sie sind fort – in der Schule, auf der Arbeit. "Dir werd ich zeigen, wie die Wohnung auszusehen hat, du Schlampe! Glaubst du, ich schufte für diesen Dreckstall!" Wie durch Watte oder brackiges Wasser höre ich diese Worte. Ein Schmerz an der Schläfe, ja ... meine Rippen, das Handgelenk. Eine andere Stimme. "Du musst fort mit den Kindern, Evamaria, der bringt dich ja irgendwann noch um. Geh um Himmels Willen fort." Wer hat das gesagt? Es ist lange her, glaube ich. Jetzt sitzen wir beim Abendessen. Was um alles in der Welt habe ich seit heute Morgen getan? Bin ich ihm zuvorgekommen? Auch das weiß ich nicht. Hinter Gerhards Kopf sehe ich den Kalender aus der Apotheke. Schwanenapotheke steht da drauf in Rot. Jedenfalls sollte es rot sein, das weiß ich.
Aber es ist bläulich grau wie alles hier. Und darunter der Abreißblock mit den Tagen. Heute ist der 12. November. Und die zwölf ist flammend rot. Ich erschrecke furchtbar darüber, einfach weil ich die Farbe sehen kann. Aber gestern habe ich es auch gesehen, und vorgestern doch auch – habe ich das Blatt denn nicht ordnungsgemäß abgerissen? Das ist nicht möglich, das gehört nämlich zum Zuvorkommen. Also muss ich es getan haben, damit seine Augen sich nicht daran festsaugen können.
Die rote Zwölf wird größer, sie nimmt fast die Wand ein – aber vielleicht bin ich doch verrückt und er hat recht. Die Kinder, sie starren auf ihre Teller. Gerhard sieht mich an – seine Augen sind starr wie gefrorene Pfützen. Ich fühle, dass ich irgendetwas sehr Wichtiges vergessen habe – etwas, das ich hätte tun sollen. Gerhard steht auf, er schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr hüpft, aber ich höre nichts. Sein Mund steht offen – es ist, als ob er schreit. Als er hinausstampft, schlägt er Micha mit der Faust auf das Ohr. Die Tür fällt zu – er geht zum Schuppen. Woher weiß ich das – aber ich bin sicher, dass er dahin geht.
Das Gefühl, dass ich etwas tun muss, wird stärker – es reißt an mir wie ein Strick, der um die Mitte gebunden ist. Der Junge ist aufgestanden, er geht in sein Zimmer, weil er nicht will, dass ich sehe, wie er weint. Der Kleine schluchzt auf und rennt hinterher. Jetzt zieht dieses eisige Tau um mein Herz mit der Kraft des Windes – ich kann mich nicht daran erinnern, was ich tun muss damit ... damit nichts geschieht?
Was war gestern gewesen, was vorgestern und den Tag davor? Ich weiß es nicht. Meine Erinnerung reicht nur bis zu diesem Morgen, so als ob es keinen anderen gegeben hätte. Die Kinder – sollten sie nicht gewachsen sein in all der Zeit? Es zieht mich zu ihren Zimmern, aber ich muss so sehr kämpfen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen – so als ob ich gegen eine Strömung kämpfen würde. Hinter mir höre ich eine Tür schlagen, aber ich kann mich nicht umdrehen. Ich will mich nicht umdrehen, ich will zu den Kindern. Ein Ton dröhnt – wie eine Schallplatte, die zu langsam läuft – das ist Gerhard.
Wieso liege ich auf dem Bett – wieso ist es ruhig? Ich wollte doch zu den Kindern. Es ist ruhig jetzt, ganz ruhig – furchtbar ruhig und ich stehe auf. Die Gegenströmung ist fort – es ist fast, als könne ich schweben. Leicht wie eine Feder gehe ich den Flur entlang – er ist in diffuses, blaugraues Licht getaucht, so wie immer. Aber mit dem Boden stimmt etwas nicht – diese schwarzen Flecken waren vorher nicht da – nicht auf dem Boden und auf den Wänden auch nicht. Mein Nachthemd ist vorne auch so – ich erinnere mich nicht an die Farbe, die es hat – aber schwarz war es nicht gewesen. Die Türen zu den Kinderzimmern sind offen, ich gehe zu den Betten und dort ist noch viel mehr von dieser Schwärze. Meine Hände sind schwarz, weil ich die Bettdecken berührt habe, und ich weiß, dass dieses schwarz eigentlich rot sein sollte – rot wie das Datum auf dem Abreißkalender. Ich hätte etwas tun sollen – und ich habe es wieder nicht getan. Wenn ich doch nur wüsste, was es sein könnte ... und als ich den Kopf drehe, sehe ich einen Schatten an der Wand – es sieht aus, als würde etwas Großes an einem Strick von der Decke baumeln. Und ich wage nicht, mich umzudrehen. Denn wenn ich es tue, wird mir einfallen, was ich nicht getan habe.
© "Todesschleife – Die Welt zeigt sich grau in grau": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2014. Bildnachweis: Rose in Schwarz, CC0 (Public Domain Lizenz).
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