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Es gab ein Jahr in meinem Leben, das mich in eine tiefe Krise gestürzt hatte. Fünf langjährige und gute Freunde starben in kürzester Zeit.
Von unserem Sextett blieb nur noch ich. Ob es mich weniger berührt hätte, wenn ich der Jüngste von ihnen gewesen wäre, weiß ich nicht – ich kann nur sagen, dass es mich erschreckte, als Ältester der Gruppe, die alle miteinander befreundet waren, weiterleben zu dürfen. Aber auch das Alleingelassensein und auf den Tod warten gingen eine Weile durch meinen Kopf. Nein, nicht der Tod an sich, sondern das Sterben beunruhigte mich.
Herzstillstand, Krebs, Hirnschlag und Unfall löschten fünf Leben aus, die mit mir freundschaftlich verbunden waren. Und ja, meine Freunde fehlen mir bis heute. Immer wieder ertappe ich mich dabei, mit ihnen Gespräche zu führen – in der Wohnung, im Garten, auf der Arbeit, und auch auf meinen Ausflügen oder auf Reisen. Sie geben mir Antwort, wenn ich mich – still in Gedanken versunken, oder auch leise vor mich hinmurmelnd – mit ihnen unterhalte. Und sie fragen mich Dinge, die ich versuche, ihnen zu beantworten, verständlich zu machen.
Die Zeit, das Leben ist für jeden von uns einmal zu Ende, und das Altern ist auch die Erfahrung vom Schwinden der Zeit. Aber in den Monaten, als meine Freunde starben, war mir aufgefallen, dass mir im Tagesablauf tatsächlich Zeit "fehlte". Da war die Viertelstunde, die mir beim Frühstück fehlte und ich deswegen zu spät zu einem Termin kam. Da war aber auch diese oder jene Stunde am Nachmittag, in der ich mich wohl einfach nur auf einem Fleck befunden haben musste, um ein Bild in Ruhe anzuschauen.
Anfangs bemerkte ich dieses Phänomen nicht, und als ich begann, es zu realisieren, bekam ich Angst. Angst, krank zu sein oder vielleicht dem Wahnsinn zu verfallen. Es dauerte noch einige Zeit, bis ich auf die Idee kam, mir Zettel zu schreiben, auf dem die aktuelle Uhrzeit stand. Kam ich wieder an dem Zettel vorbei, notierte ich die zweite Uhrzeit, dann die dritte, und so weiter. Erst so bekam ich den Überblick über die "verlorene Zeit".
Aber ist diese Zeit wirklich "verloren"? Die Zeit, die man in Gedanken mit Freunden verbringen darf? Ich bin sicher: Nein. Wir Freunde sind weiterhin für uns da. Sie lassen mich mit ihnen meditieren, während sie körperlos bei mir sind. Meine Gedanken und Gefühle sind in und nach diesen Minuten gelassener, auch der berufliche Stress wird gemindert. Unser aller Bewusstsein wird zu einer Einheit verschmolzen.
Es ist ein meditatives Versinken in eine andere Dimension, vergleichbar mit dem Gefühl, wenn man am Ufer des Meeres sitzt und den Wellengang betrachtet, oder auf dem Berg den Bewegungen der Wolken folgt. Eine Art Gehirn-Yoga, das den Kopf klarmacht und befreit. Dieses Dasitzen und Meditieren ist ein zeitlich begrenztes Loslösen vom Alltag. Und sehr oft bin ich glücklich darüber.
© "Die Erfahrung vom Schwinden der Zeit": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Bildnachweis: Zeitanzeige, CC0 (Public Domain Lizenz).
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