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Wie lange sie schon dort steht, weiß ich nicht. Dieser alte Friedhof hier ist längst zu einem Park geworden, die Gräber sind eingeebnet. Die meisten Statuen hat man stehen gelassen, soweit sie nicht zerschlagen wurden. Vandalismus gibt es auch hier, und so mancher alte Grabstein wurde umgestürzt und zerbrach.
Die ältesten Gräber hier datieren auf das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Aber so alt ist meine traurige Freundin wohl nicht. Zwar kannte ich diesen Friedhof schon, als noch alle Gräber zu sehen waren, aber ich kann mich nicht an dieses erinnern, das sie bewacht hat. Vage erinnere ich mich an die hübschen Geländer, von denen die Grabstätten eingerahmt waren. Es gab auch geschwungene Steineinfassungen mit Treppchen und Steinvasen an jeder Ecke des Gevierts. Engel und Lorbeerkränze schimmerten unter Efeu und allerlei anderen Kletterpflanzen durch, viele Skulpturen hatten eine kecke Mütze aus dickem Moos.
Lange Zeit schlief der Friedhof vor sich hin, war Spielplatz und Treffpunkt für Liebespaare. Mein Schulweg führte hindurch, und so gingen meine Freunde und ich jeden Morgen den Hauptweg entlang, um diese Abkürzung zu nutzen.
Außerdem konnte man hier die eine oder andere Zigarette rauchen, ohne dabei erwischt zu werden. Das war zu der Zeit, als Erwachsene sich noch einmischten, wenn sie Schüler rauchen sahen. Und natürlich petzten.
Mit einem Buch konnte man hier wunderbar sitzen und eine Schulstunde schwänzen. Zwischen sonnenbekringelten Grabsteinen und uralten Linden saß man versteckt und gemütlich. Aber irgendwann kamen dann Arbeiter mit schwerem Gerät und transportierten Tonnen von Stein fort – brachen Gruft auf Gruft auf und ebneten ein, was einzuebnen war.
Früher am Rande gelegen, ist dieser Park jetzt mitten in der Stadt – eine Art Refugium im Straßenverkehr. Die sehr schöne alte Leichenhalle wird als Event Location genutzt. Das freut mich sehr, denn das bedeutet, dass sie nicht abgerissen wird.
Als heimlicher Rückzugsort für kleine Sünden hat der alte Friedhof nun ausgedient, nun wurde er zu meinem Refugium für Hundespaziergänge. Das ganze Stadtviertel traf und trifft sich heute noch dort, um mit Pinscher, Beagle oder Schäfermix spazieren zu gehen. Dazwischen tollen Kinder mit ihren Muttis, und Vatis fahren Buggys mit ihren fröhlichen oder auch greinenden Kleinsten. Nachts ist der Park auch Party-Meile für Teenager – was man morgens an so mancherlei Überbleibsel sehen kann.
Aber so oft ich auch dorthin komme – nicht mehr so oft wie früher, weil ich woanders wohne – besuche ich diese einsame Dame. Man kann sich ihr jetzt von "Du zu Du" nähern, sie steht ohne Podest und Sockel in der Nähe einer Bank. Manchmal sehe ich, dass bei irgendjemandem das künstlerische Talent durchgebrochen ist, weil sie wieder einmal knallrote Lippen und blauen Lidschatten trägt. Wasserfeste Farbstifte haben in jeder Tasche Platz. Ganz heil ist die alte Dame auch sonst nicht mehr, und ich habe jedes Mal Angst, dass man ihr das Gesicht ganz zerschlagen hat.
Sie ist, so wie diese alten Bäume, mein ganzes Leben lang hier gewesen, und wohl auch das ganze Leben meiner Eltern. Als meine Großmutter noch eine junge Frau war, wurde der Friedhof noch benutzt. Eines ihrer Kinder lag dort begraben. Sie hatte mir den Kinderfriedhof einmal gezeigt. Eine kleine Ecke war den winzigen Gräbern vorbehalten. Das war so etwa um die 1920 herum. Dann wurde ein neuer Friedhof angelegt.
Noch leben Nachkommen der Verstorbenen, die hier begraben waren. Sie kümmern sich noch heute um manche Grabstellen, lassen sogar die Steine ausbessern. Solange diese Gräber für jemanden wichtig sind, ist der Park vielleicht sicher. Aber für alle Zeiten wird man ihn den Alten, den Kindern und den Hunden wohl nicht lassen. Das wäre gegen die Weise dieser Stadt.
Aber solange begrüße ich meine Freundin über Jahre, frage in Gedanken, wie es ihr geht – und spüre doch immer Traurigkeit. Und ich gestehe, bei jedem Besuch streiche ich über ihre kalte Steinhand, so als könnte ich die Jahre streicheln, die vergangen sind. Und von denen ein erstaunlicher Teil sich hier abgespielt hat, in diesem einstmals so verwunschenen Friedhof. Er hätte diesen Namen wirklich verdient – denn nichts ist so still wie dieser schlafende Friedhof. Wenn es hier auch nicht immer friedlich zugegangen ist.
La belle tristesse – so lange ich kann, werde ich sie besuchen kommen.
© "Der schlafende Friedhof und die einsame Dame": Textbeitrag und Fotomaterial von Winfried Brumma (Pressenet), 2016.
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