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Menschen schließen sich zusammen, sei es freiwillig oder aus einer Notwendigkeit heraus. Vereine, Clubs und Stammtische, oder – in letzter Konsequenz – auch Parteien bieten die Gelegenheit, sich über gemeinsame Themen auszutauschen oder eine zumindest verbale Front gegen etwas zu bilden, das als unerträglich oder zumindest störend empfunden wird.
Diese Gemeinsamkeiten lassen das Gefühl der Einsamkeit schwinden, man lebt mit Gleichgesinnten und ist somit stärker, als man es alleine je wäre. Das ist bekannt und wir wissen recht genau, wie so etwas funktioniert und wie solche Gemeinschaften entstehen. Sie werden in den meisten Fällen gegründet und funktionieren gut oder weniger gut. Ohne Regeln geht so etwas nicht – wie jeder, der einmal Vereinsmitglied war, bestätigen kann. Die Regeln werden fixiert, aufgestellt und aufgeschrieben – und damit hat es sich.
Es gibt aber auch andere Gemeinschaften, die nicht gegründet werden müssen, sondern die sich spontan manifestieren. Nehmen wir zum Beispiel eine Straße in mittelguter Wohngegend. Die Häuser sind in Ordnung und es ist recht ruhig, bis auf den Durchgangsverkehr. Dass es hier härtere Gesetze als in einer Kadettenschule gibt, ist nicht augenscheinlich. Das wird erst ersichtlich, wenn die Gemeinschaft sich als solche zu beweisen sucht. Das gilt vor allem für die Sauberkeit und die bürgerlichen Pflichten. Schneit es zum Beispiel und der Schnee bleibt liegen, greifen sofort strenge Regeln.
Ab dem frühen Morgen hört man das "schab schab schab" der Schneeschaufeln. Jeder richtet sich nach den Verordnungen der Gemeinde. Wer da zu spät mit dem Gerät vor die Türe tritt, wird erst einmal misstrauisch betrachtet. Ein oder zweimal (je nach Wohngegend) wird noch toleriert. Aber ab dem dritten oder vierten Mal kommt Argwohn auf.
Der zerknirschte Langschläfer (oder tatsächlich anderweitig Beschäftigte) beeilt sich nun, seiner Pflicht nachzukommen. Und wundert sich nicht lange darüber, dass die Gardinen der nächsten Nachbarn in Bewegung kommen, wenn er als Letzter räumt. Eigentlich müsste er ja nur etwa einen Meter breit freimachen, aber da das keiner tut, traut er sich erst gar nicht. Dazu gehört nämlich Courage – denn in einer Straße, wie sie hier beschrieben wird, ist Faulheit ein größeres Stigma als das schwarze Pestkreuz an der Tür.
Wer zum Beispiel die Mülltonnen spät herausrollt, kann die hochgezogenen Brauen und das Kopfschütteln praktisch zwischen den eigenen Schulterblättern spüren. Selbst dann, wenn er die Prozedur so leise wie möglich hinter sich bringen will. Die Tonnen nicht sofort nach der Leerung wieder zurückzubefördern, wird allerhöchstens Berufstätigen nachgesehen. Alle anderen vergehen sich an der Gemeinschaft. Dabei hat niemand jemals einen Anschlag an der Haustüre angebracht mit der "Straßenordnung". Die Gesetze bilden sich völlig von selbst. Keiner spricht es aus, aber jeder weiß Bescheid.
Wer hier einen Fehler macht, bestätigt Regeln und Vorurteile der bestehenden Gemeinschaft – und er/sie wird nie das Haus verlassen ohne dieses Gefühl des Beobachtetseins.
Wer je einer Clique angehört hat und sich mehr im Szenetreff herumgetrieben hat als zu Hause, kennt diese Mechanismen ebenfalls. Es gilt, einen niemals schriftlich oder verbal fixierten Codex einzuhalten. Wer das nicht immer schafft, wird zum personifizierten Grund für die Gemeinschaftsbildung: er bekommt die Rolle des Eindringlings bzw. des Anderen oder Fremden zugewiesen, er übernimmt also den undankbarsten und wohl auch gefährlichsten Part. Das funktioniert in der Vorstadt ebenso wie am Arbeitsplatz, in der Kneipe oder auf dem Sportplatz.
Gemeinschaften werden geschlossen, um Angst fernzuhalten und benutzen andererseits Angst, um sich als Gemeinschaft zu bestätigen. Elitärer Anspruch gründet letztendlich ebenfalls in Ängsten.
In den Anfängen der Menschheit war es sinnvoll, das Unbekannte zu fürchten oder neue Verhaltensweisen erst einmal zu prüfen. Wir wollen es nicht wahrhaben, dass der am Lagerfeuer kauernde, in harte Überlebenskämpfe verwickelte Ur-Ahn noch immer lebendig in uns ist. Wie könnte es sonst möglich sein, dass die Breite eines schneefreien Pfades auf dem Gehweg oder der Schnitt eines Kleidungsstückes uns dermaßen beängstigt, dass wir wiederum Angst verbreiten.
Wenn Gemeinschaft vor allem von der Angst vor Ausgrenzung lebt, hat sie versagt.
© "Die Gefahr der Gemeinschaftlichkeit": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Bildnachweis: Motivation Teamwork, CC0 (Public Domain Lizenz).
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