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"Komm! Komm doch mit uns auf den Jahrmarkt!" Ich schüttle den Kopf, so wie ich es immer tue. Hier nennen sie das anders, aber es ist mir gleich. Es ist so oder so nicht mein Land, das war es nie gewesen. Aber ich hatte keine Wahl und werde keine mehr haben.
In den letzten Wochen war dieser Traum immer wiedergekommen. Kein Wunder – es ist Saison für öffentliche Feste. Karusselle. Fressbuden. Tanzböden. Dieses Gesumme und Geschreie, diese schreckliche Melodie, die meinen Kopf zum Platzen bringt. Im Traum gebe ich K das Paket. Er geht, geht zu schnell. Er wirft das Objekt hoch, um es dann mit einem Lachen aufzufangen. Ich will schreien, will ihn anbrüllen. Aber es ist, als wäre ich unter Wasser – meine Schreie bleiben lautlos. Dann geht er los, er wendet sich zum Eingang. Dort, und genau dort soll er deponieren, was ich ihm gegeben habe. Aber er geht in die andere Richtung.
Ich will das nicht Träumen nennen – denn Träumen ist anders. Es ist nicht diese fürchterliche Anstrengung, sich gegen einen unsichtbaren Orkan zu stemmen, der nur für mich selbst fühlbar ist. Im Traum ist man nicht so verzweifelt – das glaube ich jedenfalls. Aber ich habe seit langer Zeit nicht mehr geträumt, sondern immer nur diese Anstrengung gemacht.
Es wäre immer der gleiche Ablauf, aber ich habe bemerkt, dass ich in den vielen Jahren, in denen ich diese Szene sehe, dem Mann mit dem Paket vor mir um ein Weniges näher komme. Ich muss, muss ihn erreichen. Aber er lacht und geht schnell – viel schneller als ich – vorwärts, um seine Last niederzulegen. Er sollte auf den Eingang zugehen – warum tut er es nicht?
Meine Frau hat sich an die Nächte gewöhnt, in denen ich schreiend von der Matratze hochfahre. Sie weiß nichts von meinem anderen Leben, sie ist hier geboren. Ich habe ihr erzählt, dass dieser Albtraum von einem Großbrand kommt, den ich überlebt habe. Und gelogen ist es nicht wirklich.
Manches Mal kommt der Traum monatelang nicht – und manchmal zweimal oder dreimal in der Woche. So wie heuer, wo die verdammten Jahrmärkte abgehalten werden. Wenn ich aufgewacht bin, schwitzend und mit vom Schreien trockener Kehle, bin ich nicht hier in meinem Schlafzimmer, das ich mit meiner Frau teile. Sie kennt das und spricht nicht mit mir, bringt mir Wasser und ein Glas Wein.
Vor meinen Augen sehe ich K. Er hat nie gelacht und das Ding hochgeworfen, dazu war er zu ängstlich. Jünger als ich, aber nicht allzu viel, war K ein bemüht ernsthafter Typ. Er redete zu viel – schwafelte eigentlich sogar. Ich kann mich nicht sehr genau erinnern an den realen Menschen – der ist nicht so lebendig wie der, den ich im Traum verfolge. Er hatte hochgestochene Ideen, war kein Praktiker. Ich weiß, dass ich ihn nicht mochte. Typen, die sich anbiedern, fand ich zum Kotzen.
Vielleicht war ich auch eifersüchtig – der "Alte", wie ich ihn heute bei mir nenne, hat dem Jungen so richtig den Kopf eingeseift. Der Kleine hatte keine Ahnung von den Manövern, die wir machten. Der kannte den weichgespülten Teil und sonst nichts. M, mein bester Kamerad bei der Gruppe, hatte schneller den Durchblick als ich. "Lass den Idioten von Heldentum labern. Der hat keinen Schimmer, was wirklich los ist. Stell auf Durchzug. Der ist Kanonenfutter."
K erfuhr niemals etwas Wichtiges. Er kannte keine Codes, keine Termine und keine Treffpunkte. Er hatte, als er mit dem Ding unter dem Arm vor mir herlief, kaum die Hälfte der Kameraden gesehen. Aber das wusste er nicht. Er war scharf auf Aktion. Als ich dann erfuhr, wofür der Kommandant – ja verdammt, der Kommandant – den Klugscheißer brauchte, machte ich dicht. Dass ich ihn nicht leiden konnte, machte es einfacher.
Und die ganzen Jahre ist er bei mir, in der Nacht, wenn ich wieder dort bin. Dort, wo die Leute schreien, wo es nach Jahrmarkt riecht und wo die Musik kakophoniert. Er wirft seit Jahren den kleinen Tod, den er in Händen hat, in die Luft und lacht mich an. Und er geht schnell am Eingang vorbei. Die anderen, die Männer und Frauen und Kinder, sehe ich nie. Nur ihn.
M war auf der anderen Seite, wir hatten Blickkontakt und verständigten uns durch Zeichen. Eingespielt.
K ging, als hätte er eine Baulatte verschluckt. Das entsprach seinem Bild von Heldentum, denke ich. Er war blass wie der Tod und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Daran erinnere ich mich. Und daran, dass es mir scheißegal war, was mit ihm passieren würde. Wahrscheinlich passieren würde. Und dann scherte er aus und ging auf diesen verdammten Abfalleimer zu. Ich hielt mich an die Befehle und blieb, wo ich war. Meine Augen, die sehr gut waren damals, hatten sich an K festgesaugt, auch als er kleiner und kleiner wurde. Trotz der Leute verlor ich ihn nicht.
Als M mitkriegte, dass der Spinner aus der Reihe tanzt, schloss er auf. Ich beschloss, zu warten. Dann kam die Explosion – aber diese Gewalt hatte ich mir nicht vorgestellt. Heute weiß ich, dass M zu nah an K herangekommen war und eine Hand verlor. Von Gundolf K blieb nichts übrig – bis auf das lachende Traumbild, das mich quält. Und das ich ihn verfolge, atemlos und kraftlos, und K näher komme – in jedem Jahr einen Schritt. Was werde ich tun, wenn ich ihn erreichen werde?
Das Bier hier ist ganz gut, was man vom Essen nicht sagen kann. Meine Frau hat die deutsche Art des Kochens gelernt – ich habe es ihr beigebracht. Wir haben einige Freunde, nicht sehr viele. Und jetzt gehen alle zum Fest. Ich bleibe hier, am Fenster, und denke an ein anderes Spektakel. Ich erlaube mir, daran zu denken, obwohl ich wach bin. Wie M aussah, weiß ich kaum mehr. Aber das Gesicht von Köhler könnte ich mit geschlossenen Augen zeichnen.
Ja, ich war dabei damals, 1980 beim Oktoberfest in München. Ich war der dritte Mann.
© "Ich war der dritte Mann. Ein Geständnis": Textbeitrag von Pressenet, 2016 (Der Verfasser / Die Verfasserin dieser Erzählung ist der Redaktion bekannt). Bildnachweis: Schreibende Hand, CC0 (Public Domain Lizenz).
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