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Teil V: Das Projekt "Hund"
Am nächsten Morgen stand Mam ganz früh an Malcolms Bett. "Ich habe einiges zu erledigen, mein Großer. Du darfst aufstehen, aber nicht für lange. Frühstück habe ich dir hochgebracht. Bis später." Ein kurzer Wuschler für Mals Haare – dann war Diana Strattner zur Tür hinaus.
Das war seltsam. Eigentlich war Mama ja am Morgen mit Renovieren beschäftigt. Nicht, dass Malcolm schon richtig wach gewesen wäre, aber Mam war ihm irgendwie nervös vorgekommen. Er rieb sich die Augen und setzte sich dann gähnend im Bett auf.
Auf einem Stuhl stand, in seiner Reichweite, ein richtig schönes Frühstück. Flakes, Hörnchen, Kakao und Toast mit Marmelade. Normalerweise hielt Mam nichts von zu viel süßem Kram. Aber, so dachte sich der Junge, krank sein ist manchmal gar nicht übel.
Die Vorhänge waren schon zurückgezogen, so dass die Sonne in Mals Zimmer scheinen konnte. Es war windig draußen, und man hörte wie die Bäume rauschten. Daheim – Mal dachte immer noch an Berlin als sein Zuhause – war ihm so etwas eigentlich nie aufgefallen. Das war es wohl, was manche Leute meinten, wenn sie sagten, dass Berlin eine laute Stadt sei. Zumindest in den Vierteln für ganz normale Leute.
Mal wusste, was gemeint war, wenn von "normalen Leuten" die Rede war. Da gab es keine großen Bäume und Eisentore vor langen Einfahrten. Das hatte er auch schon gesehen, aber da, wo er wohnte, war es eben laut. Mietshäuser und viele Läden gab es da, einige verkehrsberuhigte Straßen, in denen bis zur Dämmerung Kinder spielten. Und bestimmt nicht leise. Das gehörte alles dazu. Es war noch laut, wenn man einschlief, und am Morgen erst recht. Es hatte ihn nie gestört. Aber jetzt war diese Stille neu für Mal. Man hörte also das leise Rauschen von Blättern. Vögel konnte man auch hören. Tauben. Die kannte er von Berlin.
Autos gab es natürlich auch. Aber der Verkehr toste hier nicht. Man konnte das Geräusch eines Autos vom nächsten Auto unterscheiden. So etwas hatte er noch nie "nicht gehört", wie er sich grinsend dachte. Aber dann kam Malcolm der Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Etwas fehlte bei den Geräuschen. Autos gab es, wenn auch nicht viel fuhren. Bäume und Sträucher gab es ja jede Menge. "Ich habe mir immer gewünscht, im Grünen zu wohnen", hatte Mam begeistert gesagt, was Mal nicht eben toll fand, weil er nicht wollte, dass es ihr hier gefiel.
Aber wo waren die Kinder? Die größeren waren natürlich in der Schule. Aber die Kleinen? In Berlin waren die Spielstraßen voll mit Dreirädern und kleinen Fahrrädern mit Stützen. Leute schoben Kinderwagen, in denen die Babys manchmal so laut brüllten, dass man sie bis in den Laden hören konnte. Mal konnte sich nicht erinnern, hier in Kreutzbrücken (kurz die Zunge rausgestreckt und die Augen nach oben gedreht) jemals so etwas gehört zu haben. Natürlich war er mit seinen eigenen Sachen beschäftigt gewesen. Aber taub war er deswegen ja nun nicht geworden.
Ja und – hier kamen Mal seine schönen Träume des gestrigen Abends wieder in den Sinn – wo waren die Hunde? Er hatte nicht nur keine Hundehaufen gesehen, sondern auch keine der Erzeuger. Gestern war ihm das nicht so aufgefallen. Mal hatte gedacht, dass hier eben alle immer Tütchen dabei hatten und die auch benutzten.
Mal stand auf und ging zum Fenster. Das Häuschen hatte einen winzigen Vorgarten. Der war so breit, wie der Plattenweg, der von der Haus- und Ladentüre zur Straße führte. Also etwa 1,5 Meter. Da war – außer für Gras – kein Platz für einen Busch oder so etwas. Hintenraus gab es einen kleinen Garten. Der war verwildert, weil die Tante zu krank gewesen war, um sich drum zu kümmern, hatte Mam gesagt.
Mal betrachtete die Straße. Außer dem Strattnerschen Laden gab es noch eine Bäckerei und eine Brennstoffhandlung. Die hatte ein großes Hoftor, das meist offen stand. Innen konnte man mehrere Schuppen und einen ganzen Haufen mit Gasflaschen sehen. Vor der Tür stand ein großer Pritschenwagen mit Aufschrift: Schneider. Zum Einkaufen musste man in das Gewerbegebiet fahren. Das war allerdings mindestens zwei Busstationen weit weg.
Sonst sahen alle Häuser ziemlich genau aus wie das von den Strattners. In der Straße gab es vor fast jedem zweiten Haus einen Baum. Mam hatte gesagt, dass es Kastanienbäume und auch einige Linden wären. Mal hatte keine Ahnung von Bäumen. Aber eins war klar: diese Kleinstadt war ein Hundeparadies. Und doch gab es keine. Nicht einen einzigen Hund sah man. Keine Omas mit kleinen Hunden, wie man sie immer tagsüber sieht. Auch kein Schäferhund an der Leine oder ein Golden Retriever oder ein toller Mischling, wie Mal in Berlin schon viele gesehen hatte. Nichts.
Die Straße war recht ruhig. Leute gingen langsam die Straße entlang, oder sie kamen aus der Bäckerei. Bei Schneider luden zwei Männer Säcke auf den Laster. Das war's.
Keine Hunde, keine kleinen Kinder. Und da fragte sich Mal, wo sich Typen wie Justus und seine Trabanten wohl herumtrieben. Die mussten ja irgendwo sein. Und auch die anderen Kinder. Gab es Kindergärten hier für die Kleinen, oder behielten die Leute alle Kinder einfach in der Wohnung? Wo wohnten Justus und seine bekloppten Kumpels eigentlich? Das sollte man wissen, allein schon aus Sicherheitsgründen.
"Wieso ist mir das vorher nicht aufgefallen?", fragte sich Mal. Und dann dachte er daran, dass er ja eigentlich gar nichts mitkriegen gewollt hatte die ganze Zeit. Er war zuhause gewesen, in der Schule und wieder zuhause. Im Städtchen herumgelaufen war er nie. Weil er nicht hier sein wollte. Klar. Das wollte er immer noch nicht. Aber jetzt war er neugierig geworden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und Malcolm dachte sich, wenn er ja sowieso hierbleiben musste, dann konnte er auch herausfinden, was das war.
Wäre schade, wenn es hier gefährlich wäre für Hunde. Schließlich wollte er ja einen haben. Mehr denn je. Und dann kam ihm noch ein Gedanke. Wenn er erst einen Hund hätte (das war für ihn ganz sicher, dass er einen haben würde), dann wäre ein Freund vielleicht auch nicht schlecht. Er schämte sich ein ganz klein wenig, als er das dachte. So, als würde er Berlin vergessen wollen.
Aber die ganze Zeit, die er hier verbracht hatte, war er nur mit Mam zusammen gewesen. In der Schule mochte er niemanden. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben war Malcolm einsam. Doofes Gefühl.
Und dann gab er sich selber ein Versprechen. Er wollte dieses Kaff entdecken und alles darüber herausfinden. Es kam nur darauf an, seinen Erzfeinden aus dem Weg zu gehen. Aber die konnten ja nicht überall sein.
© "Malcolm: Kleinstadt ohne Hunde": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Bildnachweis: Stadt in Deutschland, CC0 (Public Domain Lizenz).
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