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Vor langer, langer Zeit erzählten sich die Menschen am Bodensee von einem Ungeheuer, das umgehen solle. Vor allem da, wo die Stadt Lindau lag und heute noch liegt, geschahen eine Zeit lang sehr sonderbare Dinge. Des Nachts wollten viele Bürger Geräusche gehört haben auf den stillen Gassen ... ein Patschen wie von großen und nassen Füßen sei es gewesen.
Viele Lindauer lachten darüber, aber längst nicht alle. So mancher, der nicht schlafen konnte in der Nacht, hatte etwas gehört und nur nicht gewagt, die Fensterläden aufzumachen, um zu sehen, was da auf der dunklen Gasse unterwegs war. Viele der Bodenseefischer berichteten ebenfalls von Vorkommnissen, die ihnen bei ihrer Arbeit begegnet waren – von plötzlich aufkommendem Wind sprachen sie und von Strudeln, die sich zur Unzeit zeigten. Ja, so manche Bootsbesatzung erklärte, mit knapper Not davongekommen zu sein, bevor ihr Kahn auf den Grund des Sees hinabgezogen wurde.
Nun gibt es immer und zu allen Zeiten ängstliche Menschen, die alles glauben wollen, was sie sich vorstellen, wenn sie ihre Bettdecke über das Gesicht ziehen, aber schließlich konnte man nicht mehr so tun, als sei alles so, wie es sein sollte. Immer mehr Fischer beklagten sich über leere und zerstörte Reusen, immer wieder kamen welche mit beschädigten Kähnen und Booten vom See zurück. Etwas, so sagten sie, habe mit großer Gewalt an den Rumpf geschlagen, es seien Blasen aufgestiegen, aber gezeigt habe sich nichts.
Andere bekreuzigten sich und erzählten von ihren Netzen, die übel zerrissen waren, als man sie einholen wollte. Ein Fischer war gar über Bord gegangen, als er das Netz nicht loslassen wollte, an dem so derb gezerrt wurde. Seine Kameraden griffen schleunigst zu und holten ihn wieder in den Kahn. Gerade noch rechtzeitig, meinte einer, bevor die große Klaue, die plötzlich aus dem Wasser schoss, nach dem Unglücklichen greifen wollte. Ob die wackeren Bootsleute nun wirklich gesehen hatten, was sie berichteten, oder ob sie ihr Garn spannen – die Menschen am See waren in Aufruhr.
Der Markt in Lindau, berühmt wegen seiner Waren aus nah und fern, war in einiger Gefahr, denn die Berichte von einem Ungeheuer, das im See sein Unwesen treibe und sogar an Land gehe, verbreiteten sich schnell und schreckten sogar einige sonst unerschrockene Händler ab. Sie hielten die Straßen nicht mehr für sicher, und sie hatten wohl einigen Grund dazu. Vieh verschwand auf den Weiden und sogar aus den Ställen, Zäune wurden umgerissen und Gärten verwüstet. Des Nachts traute sich niemand mehr nach draußen, überall am See kam es zu Verwüstungen und Zerstörungen. In Lindau verdoppelte man die Stadtwachen für die Stunden nach dem Sonnenuntergang, aber obwohl pausenlos patrouilliert wurde, sah keiner das Ungeheuer. Zwar fanden sich im Morgengrauen hier und da große feuchte Flecken in den Gassen und vor allem am Hafen und Ufer, so als ob etwas, das aus dem Wasser gekommen und umgegangen war – aber zu Gesicht bekommen hatte kein Mensch etwas.
In ihrer Not wandten sich die Menschen an die gelehrten und frommen Brüder des nahen Klosters. Der Abt versprach, sich um Abhilfe zu bemühen, denn auch die Abtei war von der Sache betroffen. Früchte, Wein und was sonst noch gut gedieh in den Gärten und auf den Feldern, die von den Mönchen bearbeitet und kultiviert wurden, waren begehrte Waren auf dem Lindauer Markt und bescherten ein gutes Einkommen. Nun aber bestand Gefahr, dass dieser für alle Seiten erquickliche Handel vielleicht brachliegen könnte, und so kam es, dass der Abt und einige seiner Brüder eine Messe lasen und in einer feierlichen und schönen Zeremonie den See segneten, um das Böse darin zu vertreiben. Doch so gut es die frommen Gottesmänner auch gemeint hatten, die Zerstörungen hörten nicht auf. Einmal erreichte ein leckgeschlagenes Boot gerade noch das Ufer, ein anderes Mal kippte ein Fuhrwerk fast um, weil die von irgendetwas, das in der Dämmerung umherpatschte, erschreckt worden waren.
Mutige junge Burschen taten sich zusammen, um des Nachts am Ufer entlangzugehen und auf das unheimliche Wesen zu lauern und ein Ende mit ihm zu machen, aber entweder fanden sie nichts oder sie kamen bleich und schlotternd in die Stadt zurückgelaufen, weil sie es brüllen gehört hatten. Ein Geräusch, so sagte man, das klang, als käme es aus den Tiefen der Hölle. So mancher hatte im Morgengrauen mit Schaudern ein schreckliches Geheul gehört, ein Wimmern und Schreien, das durch Mark und Bein ging. Wo besondere Dinge vor sich gehen, finden sich schnell Leute der besonderen Art ein, und so machten zugereiste selbsternannte Magier und Heiler ein gutes Geschäft mit Amuletten, die vor dem Bösen schützen sollten und anderem Tand. Und so mancher gab sein sauer verdientes Geld für getrocknete Kräutersäckchen aus, welche um den Hals von Mensch und Vieh gehängt vor allem Übel bewahren sollten. Wer so ein Ding unter dem Wams trug, sprach nicht darüber, aber viele Quacksalber verließen die Stadt zu diesen Zeiten mit weitaus schwererem Beutel, als sie es sonst gewohnt waren.
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So wäre es wohl weitergegangen, bis alle Leute das Land um den See verlassen hätten, wäre nicht eines Tages etwas sehr Seltsames geschehen. Es gab da nämlich einen kleinen Jungen von vielleicht zehn Jahren – der Sohn eines Markthändlers aus Lindau. Eigentlich sollte der Kleine ein tüchtiger Kaufmann werden und seinem Vater recht zur Hand gehen, aber sein Sinn war auf völlig andere Dinge gerichtet. Wo er konnte, kniff er aus, um am Seeufer herumzustrolchen, Vögel zu beobachten oder zuzusehen, wie die silbrigen Fische kleine Regenbogen schufen, wenn sie im Sonnenlicht kurz aus dem Wasser sprangen. Immer hatte er eine kleine Rohrflöte bei sich, und obwohl er wusste, dass es eine Strafe geben würde, saß er stundenlang am Wasser und spielte Liedchen.
Wie einige andere Menschen in der Stadt hatte auch der Junge des Nachts die fürchterlichen Schreie gehört, und er war es auch, der gesagt hatte: "Das Ungeheuer sucht etwas. Wenn man ihm hilft, ist es vielleicht nicht mehr so böse." Der Vater hob, wie immer, wenn sein Sohn etwas sagte, das in seinen Ohren sehr dumm klang, die Hände und seufzte über dieses Kind, das so gar nichts von einem tüchtigen Händler an sich hatte und ein nichtsnutziger Träumer war. Doch der gewitzte Junge behielt seine Gedanken für sich und schwieg zu dem Vorwurf.
In den folgenden Tagen machte der Sohn des Händlers einen recht müden Eindruck beim Tagewerk, so dass seine Mutter schon fürchtete, er könnte krank werden. Die Abgeschlagenheit kam allerdings wohl eher von den durchwachten Nächten am offenen Fenster, denn der kleine Abenteurer hielt auf seine Weise Wache. Und tatsächlich hörte er in einer Nacht, kurz nachdem der Nachtwächter die Mitternachtsstunde ausgerufen hatte, ein Patschen. Flink verließ er seine Kammer auf dem zwar unüblichen, aber recht oft genommenen Weg am Obstspalier hinunter und versteckte sich hinter dem großen Holzstoß, der vor dem Hause war. Dann lauschte er aufmerksam in die Nacht hinein, um die Richtung zu orten, aus der das Geräusch kam. Flink wie ein Eichhörnchen flitzte der mutige Kerl die Gasse hinunter, und tatsächlich konnte er im Mondlicht große feuchte Flecken auf der Erde sehen. Er hielt sich etwas zurück, er wollte den Verursacher nicht zu Gesicht bekommen, das würde später kommen. Und so folgte der kleine Lindauer den Spuren des nächtlichen unheimlichen Wanderers bis vor die Stadt und noch etwas weiter. Die Stelle, an der die Spur im Wasser verschwand, merkte er sich wohl. Dann aber kehrte er zurück nach Hause.
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Am nächsten Tage kurz vor Sonnenuntergang saß ein kleiner Junge genau an besagter Stelle im Schilf und spielte auf seiner Flöte traurige Weisen. An seiner Stelle befand sich ein Strohbündel unter der Bettdecke daheim und würde einer flüchtigen Überprüfung der Kammer von der Türe her wohl standhalten. Als die Sonne vollständig untergegangen war, war dem kleinen Pfeifer der Hals schon recht trocken geworden, doch er spielte unverdrossen weiter und wurde belohnt. Denn seit einigen Minuten hatte er ein Glucksen gehört, das aus dem Schilf kam. Es hörte sich an, als bewege sich etwas im Wasser, verstohlen und bemüht, nicht aufzufallen. Stetig weiterspielend wandte der Junge dann langsam den Kopf und sah ... das Ungeheuer vom See.
Es war zu mehr als der Hälfte aus dem Wasser gekommen und sah einem Drachen nicht unähnlich, wenngleich kleiner. So hoch wie zwei Männer mochte das Geschöpf wohl sein, und wohl ebenso breit. Graugrüne Schuppen bedeckten es gänzlich, und auf seinem Rücken trug es einen feuerroten Knochenkamm. Aber was den Jungen wirklich erstaunte: Das Ungeheuer hielt sich zwei menschenähnlich geformte Arme vor das breite Gesicht, das von Schluchzen geschüttelt wurde. "Uhuuuuuuugh", tönte es schaurig über den See und durch die Nacht.
Der Junge hörte auf zu spielen und schaute dem Geschöpf in die Augen, während er beruhigende Worte flüsterte. Mit einem Grunzen streckte das Monstrum eine Klaue nach der Flöte aus und gab dann einen tiefen rauen, aber doch verständlichen Laut von sich. "Sch..schatz" grummelte es aus dem bartenbewachsenen Maul, und dann ein weiteres Heulen. Dann deutete es unbeholfen auf die silbrigen und im Mondlicht springenden Fische. Da verstand der Junge endlich, dass das Monster wütend war über den Raub seiner Schätze ... der glänzenden Fische und Muscheln aus dem See. Deshalb versuchte es die Boote und andere Geräte der Menschen zu zerstören – das war der Grund für das Ungemach.
Mutlos seufzte der Junge auf, denn die Menschen waren auf die Schätze des Sees angewiesen, sie konnten nicht anders, als sie bergen. Doch in diese Traurigkeit fiel ein zauberhaftes Licht, der Mond stand in voller Schönheit am Nachthimmel und beleuchtete die beiden ungleichen Wesen da am Ufer. Und da sah der tapfere Pfeifer die Rettung vor sich im Wasser treiben. Er wies aufgeregt auf einige wunderschöne Seerosen, die geradezu magisch im nächtlichen See erglühten und sagte aufgeregt: "Da siehst du, da sind wundervolle Schätze ... und sie gehören Dir ganz allein!"
Das Ungeheuer starrte gebannt auf die magisch schimmernden Seerosen und ließ ein rollendes Geräusch tief in seiner Kehle hören. Das mochte wohl eine Art Lachen sein, dachte der Junge. "Meine Sch..schätze", grollte der Drache, stupste die ihm am nächsten treibende Seerose an und nahm sie vorsichtig in sein Maul. Dann drehte er noch einmal den Kopf zu dem Jungen, bevor er mit einigen schnellen Bewegungen im See verschwand.
Der tapfere und kluge Händlerssohn war am folgenden Tag noch müder als sonst, aber durchaus mit sich zufrieden, und von diesem Tag an hörte alles Ungemach auf und das Ungeheuer vom Bodensee wurde nie mehr gesehen und gehört bis auf den heutigen Tag. Aber kaum irgendwo in der ganzen weiten Welt gibt es so herrliche Seerosen wie im Bodensee.
© Die Sage vom Bodensee-Ungeheuer und der Seerose wurde erzählt und aufgeschrieben von Norbert Kieble vom ***Hotel Seerose zu Lindau am Bodensee. Zeichnung: Pressenet, 2009.
*** Das Traditionshaus Seerose ist ein Familienhotel zum Wohlfühlen auf der Lindauer Insel am Bodensee mit mediterranem Flair.
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