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"Also das war so", sagte einer der zehn Kursteilnehmer die sich hier in der Volkshochschule versammelt hatten, um Märchen erzählen, erleben und verstehen zu lernen. "Also da war ein König, der wohnte in einem großen Wald, besser gesagt, sein Schloss stand im Wald. Der schickte nun einen Jäger hinaus um ein Reh zu schießen. Danach kam der Hund nicht wieder."
"Nein, Moment mal, der Jäger kam nicht wieder, da ließ der König noch zwei andere Jäger losschicken, die mit einer Meute Hunde bewaffnet waren", korrigierte ihn ein anderer Mann.
"Nein, das ist falsch", mischte sich eine Frau ein. "Der König schickte drei Jäger aus, die alle nicht wieder kamen. Anschließend schickte er eine ganze Schar von Jägern aus, die von einer Meute von Hunden begleitet wurden und alle nicht wieder kamen."
"Keiner wollte in den Wald gehen", bestätigte die Kursleiterin mit einem zufriedenen Lächeln. "Und was haben wir noch festgestellt?"
"Dass sie Angst hatten", sagte die Frau eifrig.
"Der König und seine Familie waren Menschen, die nur ein sehr vernunftbezogenes Verhältnis zueinander hatten. Sie sperrten ihre Gefühle im Wald ein", ergänzte die Kursleiterin.
"Eben, und dann kam da doch ein mutiger Jäger, der es wohl wagen wollte in den Wald zu gehen. Ja wohl.. und sofort danach kamen zwei Diener um das Wasser auszuschöpfen", ergänzte einer der Männer.
"Welches Wasser?" Die Kursleiterin sah verwirrt aus. "Ach so, Sie meinen das in dem der Hund des Jägers lag." "Genau, und dann war da noch der nackte Arm der herausragte", fügte der Mann hinzu.
"Was machte der Arm?" fragte die Kursleiterin. Ihr Gesicht wirkte angespannt. "Ja, der zog am Hund", antwortete der Mann. "Ganz richtig", ergänzte sie erleichtert. "Aber was fanden sie, als sie das Wasser ausschöpften?"
"Ja, den Eisenhans, der das männliche Erwachsene verkörperte", mischte sich die Frau ein. Ihre Wangen glühten eifrig, sie hatte ihre Lektion gelernt.
"Er konnte allein für sich leben und damit zufrieden sein. Und ihn haben sie dann eingesperrt. Er steckte in einem großen Käfig, und die Königin musste den Schlüssel in Verwahrung nehmen. Der König hatte einen Sohn von acht Jahren, welcher im Hof mit einem goldenen Ball spielte. Natürlich durfte der Junge den Käfig nicht öffnen, aber sein Ball fiel hinein. Es war einer der vielen Zufälle im Leben. Der Eisenhans war ein kluger Mann. Er sagte dem Jungen, dass er den Ball nur wieder haben könne, wenn er den Käfig öffne."
"Ja, aber der Schlüssel war unter dem Kopfkissen der Königin", ergänzte einer der Männer.
"Und was sagt uns das?" wollte die Kursleiterin wissen. "Ja eben typisches Gluckenverhalten, sperrt das Erwachsene ein", sagte die Frau stolz.
"Kennt man doch alles, dieses psychologische Zeug", brummelte einer der Männer. "Aber der Junge ließ sich natürlich nicht aufhalten. Mutig wie er war, öffnete er den Käfig", ergänzte er. "Na, der hatte auch Angst", widersprach die Frau.
"Und danach herrschte große Trauer am Hof", verkündete der Mann. "Der Junge hatte Angst vor seinen Eltern. Deshalb ging er mit dem Eisenhans in den Wald. Dort saß er nun und hatte eine goldene Schlange und einen Fisch vor sich." "Im Wasser", ergänzte die Frau.
"Im Goldbrunnen", verbesserte der Mann. "Darin waren diese zwei Tiere auf die er aufpassen sollte. Und ins Wasser durfte nichts hineinfallen. Damit wurde er getestet, denn dadurch sollte er erwachsen werden. Aber er konnte nicht widerstehen und steckte seinen Finger ins Wasser. Danach war der vergoldet. Der Eisenhans bemerkte das natürlich. Nachdem der Junge das dreimal wiederholt hatte, waren auch seine Haare vergoldet. Da schickte ihn der Eisenhans endgültig in die Welt hinaus. Bei ihm konnte er das Erwachsen werden nicht lernen."
"Und was haben wir noch festgestellt?" wollte die Kursleiterin wissen. "Der Eisenhans sagte aber doch, wenn du etwas brauchst rufe mich an ... nee, damals hatten sie noch kein Telefon." Der Mann räusperte sich verlegen. "Der Eisenhans sagte: Meine Macht ist groß, Gold und Silber habe ich im Überfluss. Das bedeutet, dass der Königssohn noch eine Stütze im Hintergrund hatte", erklärte die Kursleiterin zum wiederholten Male.
Der Mann fuhr fort: "Er bekam gleich Arbeit in der nächsten Stadt, und das nur weil er den Leuten gefiel. Aber damals gab es noch keine Arbeitslosen. Beim Koch am königlichen Hofe durfte er Wasser tragen und Holz und Asche zusammenkehren. Aber er hatte einen Grind am Kopf ... nee, er hatte ja immer noch seinen Hut auf, wegen seiner goldenen Haare. Dann sollte er dem König das Essen bringen, nahm aber den Hut nicht ab. Das passte dem Herrscher natürlich gar nicht und er schimpfte, weil man ihm einen Jungen mit Grind zum Essen bringen geschickt hatte." "Danach wurde er als Gärtner beschäftigt", ergänzte die Frau.
"Der Königstochter gefiel er aber ganz gut", fuhr der Mann fort. "Aber sie war neugierig, wie es Frauen eben sind. Sie zog ihm sein Hütchen ab, so dass sie die goldenen Haare sehen konnte. Aber der Königssohn brachte ihr trotzdem nur die Blumen die er für richtig hielt. Und das Geld, das sie ihm bot, nahm er nicht an. Das ist auch in Ordnung, denn es soll ausdrücken, dass die Männer bestimmen wo es lang geht im Leben."
"Nein Moment", sagte die Kursleiterin und lief rot an. "So wollen wir das nicht interpretieren. Es war nur so, dass sich der Königssohn noch nicht reif für eine Beziehung fühlte. Bitte erzählen sie weiter", ergänzte sie dann und räusperte sich laut.
"Na gut, das blieb dann auch so bis der Krieg kam. Da zog der Kerl doch mit einem dreibeinigen Pferd aus. Jetzt brauchte er natürlich den Eisenhans. Deshalb hinkte er mit seinem kaputten Pferd in den Wald, wo das männlich Starke auf ihn wartete." "Sehr gut", die Kursleiterin nickte zufrieden.
"Der Eisenhans gab ihm ein anderes Pferd und dazu eine Schar bewaffneter Krieger. So ausgestattet besiegte er die Feinde des Königs. Danach ging er in den Wald zurück und verlangte das lädierte Pferd, um zurück in die Stadt zu reiten."
"Ja gut, und das Ganze sagt uns, dass der Königssohn immer erwachsener und selbstbewusster wurde. Denn er wusste um seinen Sieg, aber er musste ihn nicht laut hinausposaunen. Auch war die Zeit noch nicht reif", erklärte die Kursleiterin mit einem schiefen Blick auf den Mann, der gleich fort fuhr zu erzählen:
"Die Königstochter war aber noch neugieriger geworden. Sie konnte nicht genug bekommen, und wollte wissen, wer der fremde Ritter war. Dann gab es ein Turnier, bei dem einer einen goldenen Apfel fangen sollte. Der Königssohn schaffte das natürlich. Da wusste er, dass er nun reif war ... Für die Königstochter und das dazugehörige Reich eben. Natürlich auch für eine gute Beziehung. Denn Klunkerchen waren reichlich vorhanden. Die Königstochter freute sich sehr, als er um ihre Hand anhielt und sie ihm endlich die Kappe vom Grind ziehen konnte. Auch der Eisenhans wurde nun erlöst. Er war ein verzauberter König. Der hatte natürlich auch viel Geld, welches er dem Königssohn aus Dankbarkeit schenkte. Danach lebten sie glücklich und so weiter bis später."
"Und was sagt uns das?" wollte die Kursleiterin zum wiederholten Male wissen.
"Dass es sich nur um ein Märchen handelt", erklärte die Frau.
"Es freut mich, dass Sie hier etwas gelernt haben. Für heute wollen wir die Märchenstunde beenden."
Die Kursleiterin verließ hastig den Raum. Sie hatte es heute besonders eilig zu ihrer Verabredung mit Herrn Klostermann, dem sehr vermögenden Herrn zu kommen, den sie gestern kennen gelernt hatte.
© Textbeitrag "Der Eisenhans – Eine Variante aus der Volkshochschule" mit freundlicher Genehmigung von Heidrun Böhm; Bildnachweis: Mystische Stimmung, CC0 (Public Domain Lizenz).
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