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Er war am Strand gewesen, das hatten sie gemerkt daheim. Es hatte wieder Schläge gegeben, der Vater hatte geschrien und hatte das Tau-Ende von der Wand genommen. Es hatte geschmerzt, aber er hatte nicht geschrien diesmal. Er hatte an SIE gedacht, und da war es nicht so schlimm gewesen wie sonst.
"Dummkopf! Faulenzer! Wie konnte ich nur so einen Idioten zeugen!", hatte er geplärrt, der Alte, und ausgespuckt. Der Junge hörte es nicht, er kannte aber die Worte, die der wütende Mund formte, weil es immer die gleichen Worte waren. Seine Brüder brüllten ihn auch an, nur die Mutter tat es kaum jemals. Sie schlug ihn auch nie, aber sie half auch nicht. Sie traute sich nicht gegen den Alten, sie hatte es schon versucht früher, aber jedes Mal bezog sie ebenso viel Prügel wie er dafür.
Manchmal, wenn sie allein in dem schäbigen kleinen Häuschen waren und er das Holz gehackt und ihr zum Herd gebracht hatte, setzte er sich zu ihren Füßen, so wie er es als Kind immer getan hatte. Dann strich sie ihm über das Haar und sprach zu ihm, sie erzählte und erzählte, und wenn er es auch nicht hören konnte, so wusste er doch, dass sie ihm das Herz öffnete. Er sah in ihr Gesicht – nicht, um die Bedeutungen von ihren Lippen zu fangen, wie er es ganz gut konnte, wenn ihm jemand vertraut war, sondern nur, um sie zu bewundern. Sie sah anders aus dann, wenn der Alte und die Brüder nicht da waren. Sie lächelte ihm zu – etwas, das sie sonst nur selten tat.
Manchmal sang sie auch, das sah er an ihrem Mund. Er erinnerte sich an die Lieder, die er vor langer Zeit gehört hatte, bis zu der Nacht, als er mit dem Vater und den anderen zum Strand gegangen war, um das Treibgut zu bergen. Ein Schiff war untergegangen und viel Brauchbares war angespült worden: Fässer, Kisten, Holz und andere Dinge. Er war vielleicht acht Jahre alt gewesen, eigentlich zu klein für so etwas. Doch der Alte hatte ihn dabeihaben wollen, weil jede Hand gebraucht werden würde. Er war ein guter Schwimmer, wendig und ausdauernd, und so holte er die kleineren Kisten ein. Man hatte ihm ein Seil um die Mitte gebunden, damit er nicht hinausgetrieben werden konnte. Doch dann wurde die See unruhiger, ein Wind kam auf und der Junge geriet zwischen die großen Fässer, die auf den Wellen schwankten.
Er erinnerte sich daran, dass die Männer seinen Namen riefen – das war das letzte Mal, dass er ihn gehört hatte, denn dann spürte er einen Schlag gegen den Kopf, und alles wurde dunkel. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Strohsack in der Hütte daheim. Die Welt war verschwommen, er sah doppelt und war von Stille umgeben. Lange Zeit hatte er schlimme Schmerzen am ganzen Körper, vor allem im Kopf. Ein Bein war mehrfach gebrochen gewesen und man hatte versucht, es mit Holzlatten zu schienen. Mit der Zeit verschwanden die doppelten Bilder, aber die Stille wich nicht. Sein Bein verheilte, aber er konnte es nicht mehr richtig gebrauchen und hinkte stark. Für die Arbeit auf dem Kahn fand man keine Verwendung mehr für ihn, das erbitterte den Vater. Der Junge tat nun das, was sonst meist die Frauen taten, das war harte Arbeit, aber Männer hatten nun einmal andere Aufgaben.
Es war eine böse Zeit gewesen für den Jungen, denn meist vergaßen alle, dass er sie nicht hören konnte und schlugen mit dem Tau-Ende oder der bloßen Hand zu, wenn er auf ihre Rufe nicht gleich den Kopf wendete. Weil man ihn anstoßen und ihm in die Augen sehen musste, hielt man ihn immer mehr für einen Idioten. Alle vergaßen das flinke und aufmerksame Kind, das sie einmal gekannt hatten – es war ihnen, als wäre er immer so gewesen wie jetzt. Er lernte auf alles Acht zu haben, um den Stößen und Schlägen zu entgehen, seine Augen und sein Geist waren so flink wie eh und je, doch nahm das niemand wahr. Ihm war es recht, denn so ließ man ihn meist in Ruhe, wenn die Arbeit getan war.
Am Meer gefiel es ihm, er sah auf die Wellen hinaus und beobachtete die Möwen, während in seinem Innern ihre Rufe erklangen, ebenso wie die Lieder seiner Mutter oder das Geräusch der Brandung. Dort war niemand, keiner mochte die See außerhalb des Fischens. Sie sahen das Meer als Feind, wenn es ihnen auch Nahrung gab. Seine Schönheit sahen sie nicht, aber das verstand der Junge. Kaum eine Familie im Dorf, die noch niemanden an die Tiefe verloren hatte. Es gab Frauen, die gerade ihr erstes Kind geboren hatten, als sie das Schwarz der Witwe tragen mussten und bis zu ihrem Tod nicht mehr ablegten. Doch seit einigen Wochen zog es ihn stärker als je zuvor an den Strand hinunter.
Angefangen hatte es damit, dass er mit den anderen die heimkommenden Boote erwartete, um beim Ausladen und Sortieren der Fische zu helfen. Dabei ging es laut und je nach Fangglück recht lustig zu, wenngleich es für ihn ein stummes Bild war. Doch dann war plötzlich eine Melodie in seinem Innern, die er noch nicht kannte. Verwundert blickte er um sich und vergaß den Korb, den er in den Händen trug, bis ein derber Schlag an die Schulter ihn aufrüttelte. Er schüttelte den Kopf, glaubend, dass seine Gedanken ihm einen Streich spielten ... aber doch war es ein Lied, das er nicht kannte. Eines, das nicht aus seiner Erinnerung kam, sondern von anderswo her. In dieser Nacht schlief er nicht, und noch bevor die Sonne aufging, war er unten an der Stelle, an der er geglaubt hatte, es zu hören. Es war ein Sonntagmorgen, und so würde man ihn nicht stören.
Bewegungslos stand er da und wartete – wartete auf etwas, von dem er nicht wusste, was es war. Und es kam wieder, es kam direkt vom Meer und klang ganz neu. Alles war still um ihn, so wie es immer war – doch diesen Klang konnte er hören. Dann sah er sie, wie sie sich in den Wellen wiegte und tanzte und dabei sang, ohne dass ihr Mund sich bewegte. Und sie bemerkte den Lauscher am Strand und verschwand im Wasser, doch nicht für lange. Neugierig tauchte sie wieder auf, verwundert darüber, dass er ihren Gesang hören konnte. Das war wie ein Spiel, und tagelang geschah nichts weiter als das.
Doch dann bestieg er kurzerhand den scharfkantigen Felsen, der bei Flut nur eine Mannshöhe aus dem Wasser ragte, und wartete auf sie. Das seichte Wasser hielt sie fern, sie konnte nicht nahe an ihn herankommen. Diesmal tauchte sie direkt vor ihm auf und er konnte sie betrachten. Eigentlich sah sie wie ein Mensch aus, und doch wieder nicht. Ihre Haut war anders, sie schien glatt und schimmernd wie mit Perlmutt bezogen. Einen Fischschwanz hatte sie auch nicht – so etwas gehörte zu den Märchen, welche die Männer erzählten. Nur ihre Füße waren breit wie Flossen und fast durchsichtig, und zwischen ihren schlanken Fingern waren zarte Schwimmhäute. Sie war auch nicht nackt, sondern sie trug etwas Glitzerndes, das aussah, als sei es aus Seetang gewebt, und unter dem dünnen Gespinst pulsierten ihre Kiemen, die unter den Schultern auf dem Rücken verliefen.
Riesige Augen hatte sie, von grünlichgrauer Farbe, die sie mit einem dritten Lid verschloss, wenn sie tauchte. Er verstand ihre Sprache nicht, aber das war auch nicht notwendig, denn sie hatten herausgefunden, dass sie einander Bilder von ihren Gedanken zeigen konnten. Und so tauschten sie ihre Leben miteinander aus, genossen miteinander Traurigkeit und Frohsinn, fassten sich an den Händen und verbanden sich jeden Tag enger miteinander.
Der Alte schlug ihn grün und blau, wenn er verschwunden war, solange die Flut währte – aber er ließ es über sich ergehen, dachte an SIE und lächelte dabei. Das ging so den ganzen Sommer lang bis zu dem Tag, an den ihn der Vater anketten wollte wie ein Tier, damit er nicht zum Strand hinuntergehen konnte. Da nahm der Junge ihn am Gürtel und stieß ihn auf die Erde, bevor er zu ihr ging. Danach sprachen sie von einer Anstalt – er sollte dort wohnen in Zukunft, weil er gefährlich sei. Die Mutter weinte, als sie es ihm bedeutete, und die Brüder gingen ihm aus dem Weg. Er fand heraus, dass man ihn bald fortbringen würde, weit in das Landesinnere hinein – und fort vom Meer.
Es war wieder ein Sonntagmorgen, als er vor Sonnenaufgang aus der Hütte schlich. Der Mutter hatte er ein Geschenk in ihre Holzschuhe gelegt – eine wunderschöne Muschel, die SIE ihm gebracht hatte. Sie wartete draußen auf die Flut, das wusste er. Und als sie endlich zum Felsen kam und die Hand nach ihm ausstreckte, stieß er sich ab und sprang in ihre Arme, um nach Hause zu gehen mit ihr.
© Textbeitrag "Heimgehen – Der Junge und das Seeweib": Winfried Brumma (Pressenet), 2009. Die Abbildung zeigt die Bronzeplastik Minsener Seewiefken (Seeweib) der Bildhauerin und Malerin Karin Mennen; © Foto: Axel Hindemith.
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