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Das Mädchen vergrub das Gesicht in den Kissen – sie wollte die Musik nicht mehr hören, die von den Sälen unten heraufklang. Vor einer Stunde hatte sie die Königin gesehen, als sie mit ihren Damen in vollem Putz den Gang entlanggerauscht war. Sie hatte wundervoll ausgesehen in ihrem goldfarbenen Kleid und der sorgfältig gebauschten hohen Frisur mit den Perlenschnüren. Aber das Mädchen hatte Angst vor ihr und den Hofdamen. Alles war anders geworden seit einigen Monaten.
Nach dem Tode ihrer Mutter hatte der Vater lange getrauert, aber letztendlich doch wieder eine Frau genommen. Da die vorige Königin bei der Geburt ihres eigenen Kindes gestorben war, wuchs die Kleine ohne Mutter auf. Ihre Ammen und Aufwärterinnen hatten ihr viel erzählt von der Mama, wie sie von ihrem kommenden Kind gesprochen und dessen Farben ausgemalt hatte: dunkel wie Ebenholz, weiß wie Schnee, und rot wie Blut.
Wie durch eine Laune der Natur hatte das Kind tatsächlich sehr dunkles Haar, rote Lippen und ganz zarte, helle Haut gehabt. Und Schneewittchen wurde sie deshalb genannt – Schneeweißchen. Ihr eigentlicher Taufname geriet in Vergessenheit, sogar der König, ihr Vater, nannte sie so. Sie hatte sich sehr gefreut, als sie von der bevorstehenden Heirat erfuhr – sie wollte eine Mutter haben.
Und die neue Königin war sehr freundlich zu dem dunkelhaarigen kleinen Mädchen, das ziemlich dünn und nicht sehr ansehnlich war, und überdies recht scheu. Auf eine lässige und abwesende Art war sie nett gewesen, die schöne Frau des Vaters. Unter ihren Sachen hatte sich ein schöner mannshoher Spiegel befunden, den man in ihrem Schlafzimmer in einem besonderen Kabinett installiert hatte, und den die Königin niemandem zeigte.
In diesem Alkoven verbrachte sie viele Stunden, um sich zu schmücken, und einmal hatte sich Schneewittchen hineingeschlichen, um die schönen Dinge dort zu betrachten. Ihr Händchen strich über seidene Stoffe und glatte Perlen, betastete die goldene Bürste und die vielen Kämme, und drehte sich ein wenig vor dem hohen Spiegel hin und her, als sie jemanden kommen hörte. Rasch kauerte sie sich hinter dem Lehnstuhl zusammen und verhielt den Atem, gerade noch rechtzeitig, bevor die Königin den Raum betrat.
Diese warf ihren Fächer auf den Frisiertisch und wandte sich sogleich dem Spiegel zu. Dann berührte sie die Oberfläche und murmelte leise und unverständliche Worte. Dann plötzlich hob die Königin ihre Stimme und sagte laut: "Zeig mir, Auge, die schönste Frau im Lande!" Und da wurde das Spiegelglas milchig und trübe und wirbelig, dann ganz dunkel. Die Frau trat einen Schritt zurück und starrte erwartungsvoll in den sonderbaren Spiegel ...
* * * Ende der Leseprobe aus unserem Buch * * *
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© Textbeitrag "Schneewittchen": Winfried Brumma (Pressenet), 2009. Bildnachweis: Illustration sieben Zwerge, CC0 (Public Domain Lizenz).
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