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Es ist zwar nicht gerade trocken draußen, aber da hilft nun nichts – einkaufen ist leider nicht zu umgehen. Es nieselt ganz leicht, als ich auf die Straße trete, das ist noch erträglich – Regenschirme mag ich nicht, weil die unbequem sind und ich sie außerdem immer irgendwo stehen lasse.
Als ich an die Kreuzung komme und stehen bleiben muss – der roten Ampel wegen – kommt ein starker Wind auf, der mir den kalten Regen ins Gesicht bläst. Jetzt fängt es an richtig zu schütten, und ich fummele mit klammen Fingern meinen Pali hervor. Früher nannten wir das gute Stück "Arafat", der schwarz weißen Musterung wegen. Jedenfalls gelingt es mir nach mehreren Anläufen, das Tuch über meinen Kopf zu bringen und die Zipfel als Sicherung um den Hals zu legen. Der Wind zerrt an meinem langen Mantel, als ich so schnell wie möglich über den großen Parkplatz vor dem Markt renne, um endlich durch die automatische Tür und somit ins Trockene zu kommen.
Ich bin fast vollständig durchgeweicht, mein Gesicht ist nass und ich gebe es nach einem Versuch auf, den Pali abzunehmen – meine Hände sind zu kalt und außerdem müsste ich das nachher sowieso wieder umlegen. Mein Gesichtsfeld ist ziemlich eingeschränkt durch die tropfnasse Umrahmung, aber ich greife das Notwendigste und lege es in meinen Korb, während ich hoffe, dass es keine Warteschlange an der Kasse gibt. Der nasse, schwere Mantel und das Tuch werden mir zusehends unangenehmer, aber ich habe Glück – vor mir sind nur drei Frauen mit nicht besonders viel im Wagen.
Die Kassiererin ist flink und freundlich, das hebt meine Laune etwas und ich bin nicht mehr so fahrig. Doch als ich mit dem Einkauf auf die Ausgangstüre zusteuere, pralle ich unvermutet auf ein Hindernis. Ein breiter Mann mit Mütze und Felljacke taucht von irgendwoher auf und ich kann nicht mehr ausweichen. Gerade will ich zu einem "Entschuldigen Sie bitte" ansetzen, als der Mensch mich anfaucht "Kannste nicht aufpassen, du Kanakenschlampe" – und er meint es nicht als Frage.
Hinter mir drängeln Leute, die auch hier raus wollen, aber nicht können, weil ich an dem Kerl nicht vorbei kann, und ich werde gegen ihn geschubst. Dann kriege ich einen Schlag gegen die Schulter, dass ich zurücktaumele und gegen irgendjemanden pralle. "Das glaub ich ja nicht, die machen sich hier breit und glauben, das Land gehört ihnen." Jemand hinter mir lacht. Ich fühle mich wie in einem surrealen Film und versuche zu verarbeiten, was gerade geschieht – will den Mund aufmachen und dem Kerl meine Meinung sagen. Aber dazu komme ich erst einmal nicht, denn plötzlich mischen sich andere Stimmen ein. "Genau, die gehen von unserem Geld einkaufen, während ihr Ali daheim rumsitzt und faulenzt."
"Neeeee", ruft da jemand, "der faulenzt nicht, der baut Bomben!" Wieder lautes Lachen. Dem Breiten mit der Mütze ist aber nicht danach, der meint es ernst. Und vor allem sucht der ein Opfer, das wird mir schlagartig klar. Wieder setze ich an, um etwas zu sagen und mich durch meine Sprache als Deutsche zu outen und den Unsinn hier zu beenden, als eine neue Stimme neben mir tönt. "Warum geht ihr Mekkafuzzis eigentlich nicht euer Fressen holen, wenn keine anständigen Leute im Laden sind!" Das ist auch keine Frage, sondern eine Drohung. Und dann wispert die eigentlich nett aussehende ältere Dame links neben mir etwas von Angst haben und sich nicht mehr auf die Straße trauen, und dass sie ihr Leben lang gearbeitet habe, und dass überhaupt jetzt diese Terroristen überall wären und deren Frauen mit den Kopftüchern, dafür habe sie sich doch nicht abgerackert.
Der Blick, den mir "Omchen" mit dem langen Arbeitsleben zuschießt, lässt auf nichts Gutes schließen und ich habe jetzt die Nase voll. Doch wieder komme ich nicht dazu, auch nur ein Wort von mir zu geben, denn von hinten entsteht großer Druck, alle schieben und ich werde nach draußen gedrängt. Einige Leute wenden sich an den mit der Mütze, und der zeigt auf mich, das kriege ich mit. Eigentlich will ich nur noch weg hier und laufe los – und stolpere so übel, dass mein Korb in hohem Bogen auf die Erde fliegt und ich mich gerade noch auf den Beinen halten kann. "Pass doch auf, wo du hinläufst, Suleika!", grölt eine Stimme. Als ich hochsehe, wundere ich mich nicht mehr, einer der Bierdosenwarmhalter, die immer hier vor dem Markt stehen, hat mir ein Bein gestellt.
Jetzt steigt so etwas wie Panik in mir hoch und ich versuche, meine Einkäufe aufzusammeln. Als ich nach dem Korb greifen will, macht der sich selbstständig, weil jemand mit voller Wucht dagegen getreten hat. Irgendwas in mir reißt – ich richte mich auf und sehe genau in die Augen von "Extrabreit mit Mütze", welcher mit hämischem Grinsen vor mir steht. Ein übler Schlag gegen meinen Unterarm ist das nächste, das passiert – einer der Pöbler hat zugelangt und meine aufgesammelten Esswaren verteilen sich von neuem auf dem Asphalt des Vorplatzes. "Mach deine Sauerei, da wo du herkommst, nicht hier in Deutschland." Mittlerweile hat sich ein Kreis um die Szene gebildet und ich hoffe, dass irgendjemand vielleicht die Polizei ruft oder sonstwie einschreitet.
"Reiß der Hure das Kopftuch runter, damit sie weiß, wo sie ist!", schreit einer. Lautstarkes Rufen und einige klatschen sogar Beifall. Der selbsternannte Sittenwart zerrt plötzlich an meinem Tuch und ich schlage ihm auf die Hand. "Lassen Sie das sein", fauche ich, wahrscheinlich mit breitester Dialektfärbung. "Du Miststück hast mich geschlagen", zischt der jetzt, und dann haut er zu. Entweder ist jetzt Stille oder ich kann nichts hören, vor meinen Augen tanzen bunte Räder und irgendwie ist so was wie ein Klingeln in meinem Schädel.
"Jawohl, zeig der Nutte mal, was Sache ist!" Die Worte dringen wie von weit her an meine Ohren. Ich sehe verschwommen die Nähergekommenen und versuche zu schreien. Aber das geht nicht, mein Mund scheint verschwunden, ich fühle ihn nicht. Ich fasse dahin, wo ich ihn vermute und greife in Nässe – dann ist meine Hand voller Blut. Mir wird schlecht, noch ein Schlag in den Rücken und einer an den Kopf. Es braust über mich hinweg, wahrscheinlich schreien sie weiter, aber ich verstehe es nicht. Ich will die Hände hochheben, um meinen Kopf zu schützen, die Hiebe sind wie ein Brennen und ich denke an meinen Sohn, Torsten, der vor geschlossener Tür stehen wird, wenn er von der Schule heimkommt. Dann weiß ich nichts mehr.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sie hat noch nicht stattgefunden ... noch nicht.
© "Pali. Eine Geschichte um ein Kopftuch": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Puppen mit Kopftuch, CC0 (Public Domain Lizenz).
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