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Der Alte war ziemlich besoffen und nicht in bester Laune. Das Mädchen kannte das nicht mehr anders – es versuchte nur noch, ihm aus dem Weg zu gehen. Gestern war ihr Geburtstag gewesen. Vierzehn war sie jetzt, aber deswegen war nichts anders gewesen als sonst.
Trotzdem war sie an dem Tag nach Hause gegangen, vielleicht war da ja irgendetwas, das auf sie wartete. Aber da war nur ihr Vater, der stinkend auf der dreckigen Couch lag und pennte. Nachdem die Mutter gestorben war, hatte das Jugendamt eine Weile hier herumgeschnüffelt, aber ihre Tante wohnte im gleichen Haus und hatte ein Auge auf Vater und Tochter.
Damals hatte er noch Arbeit gehabt und ganz gut verdient. Das Kind war nach der Schule zur Tante gegangen, um dort zu essen, machte dann die Hausaufgaben und spielte draußen oder in der Wohnung, bis der Vater nach Hause kam. Er wusste wohl nicht so recht, was er mit ihr anfangen sollte, denn er hatte sich nie so recht um die Kleine gekümmert. Das hatte die Mama getan, bis sie krank wurde. Es wurde nicht besser mit ihr, bis sie immer öfter in die Klinik kam ... und beim letzten Mal nicht mehr zurückkehrte.
Das mit der Tante ging ganz gut, bis diese auch krank wurde und ihre Wohnung kaum mehr verließ. Das Kind besorgte nun die Wäsche und machte so gut, wie es konnte, die Wohnung sauber – er bemerkte es nicht wirklich. Es wurde immer später, bis er heimkam, und immer häufiger war er nicht nüchtern. Das Mädchen lag da meist schon im Bett, denn es musste zur Schule. Irgendwann war er dann nicht mehr zur Arbeit gegangen, man hatte ihn entlassen.
Er fluchte tagelang und saß mit seinen Kumpeln zusammen in der Kneipe. Wenn seine Tochter ihn ansprach, raunzte er sie an und manchmal fing sie sich eine Ohrfeige ein. Früher hatte er ihr eine bestimmte Summe für die Woche gegeben, damit sie einkaufen konnte – mit der Tante, die immer noch kochte, rechnete er separat ab. Aber seit das Geld knapp geworden war, gab er ihr nur noch etwas, wenn sie ihn fragte. Und nie genug, denn er brauchte viel für sich und seine Freunde, wenn sie in der Wirtschaft saßen.
Das Mädchen bekam Ärger in der Schule, denn ihre Kleider waren zwar gewaschen, aber ziemlich fadenscheinig, und auch nicht gerade neu. Es gab da einige Schüler, denen das reichte, um sie runterzumachen, und es wurde ziemlich schlimm mit der Zeit. Irgendwann hatte sie keine Lust mehr zum Weinen und jemanden, dem sie davon erzählen konnte, gab es sowieso nicht. Sie lernte zuzuschlagen – und sie fing an, es zu mögen. Jetzt wurde zwar getuschelt und die Nase gerümpft, aber nur wenn sie es nicht sah. Dafür hatten ihre knochigen Fäuste gesorgt.
Ihre Noten wurden schlecht, denn sie fing an, die Lehrer zu provozieren und den Unterricht zu stören. Dieselben Mitschüler, die sie ausgrenzten, fanden es toll, wenn sie sich mit irgendeinem Lehrer anlegte. Sie war plötzlich wer, man machte ihr den Weg frei. Das Gekicher der anderen, wenn das Mädchen immer schnodderige Antworten gab und ihre Macht an den armen Würstchen hinter dem Pult ausprobierte, war die einzige Anerkennung, die sie brauchte. Es kamen Briefe nach Hause, aber sie fing sie meist rechtzeitig ab. Der Alte machte sich nie die Mühe, zum Briefkasten zu gehen – aber einmal hatte er doch einen in die Finger gekriegt.
Er hatte sie grün und blau geschlagen. Schon vorher war sie nicht mehr jeden Tag in die Schule gegangen, aber jetzt fehlte sie immer öfter. Das Jugendamt hatte sich gemeldet, aber auch diesen Brief hatte sie verschwinden lassen. Heim kam nicht infrage, denn sie hatte ja jetzt Kai. Der hatte sie angequatscht, als sie sich vor einem Laden rumgedrückt hatte, um von den Straßenständen ein T-Shirt zu klauen. Sie hatte Bammel, aber sie brauchte dringend was zum Anziehen, denn heim kam sie nicht mehr oft. Der Verkäufer hatte ihr ins Ohr gezischt: "Mach die Fliege, Mädchen. Du fällst auf."
Da war sie weitergegangen, aber nach einiger Zeit hatte sie jemand von hinten an den Haaren gezupft. Es war dieser Junge gewesen, breit grinsend hatte er ihr genau das Shirt hingehalten, auf das sie ein Auge geworfen hatte. "Bist nicht lange bei der Meute, was?", hatte er gesagt. Seit dem Tag waren sie fast den ganzen Tag zusammen. Kai hatte ihr Dinge erzählt, die ihr den Alten und den ganzen Kram fast als tolles Leben vorkommen ließ. Er lebte seit drei Jahren auf der Straße, jetzt war er siebzehn. Er wollte eigentlich nichts von ihr, es war wie Freundschaft. So etwas hatte sie schon lange nicht mehr erlebt – eigentlich hatte sie vergessen, dass es so etwas überhaupt gab.
Er kannte viele Plätze zum Übernachten – kaum ein abbruchreifes Haus oder ein geschützter Durchgang, den er ihr nicht zeigte. Es käme vor allem darauf an, nicht zu oft hintereinander an einem Platz zu pennen, sagte Kai. Zusammen schnorrten sie vor den Kaufhäusern die Leute an, zusammen klaubten sie Flaschen auf, und zusammen aßen und schliefen sie. Das Mädchen ging anfangs noch öfter heim, um zu baden oder Essen mitgehen zu lassen, aber man hatte dem Alten den Strom abgestellt. Ihre Sachen fand sie nicht mehr, er hatte wohl alles weggeworfen. In der kalten Bude hörte man nur noch das Schnarchen des Mannes, und das Mädchen schlich sich wieder aus der Wohnung, bevor er womöglich erwachen würde.
Draußen warf sie ihren Schlüssel in den Gully – es war ein Abschied. Der tolle Sommer war in den Herbst übergegangen und sie fror eigentlich immer. Einmal, weil sie viel zu wenig aß, und dann, weil Kai ihr gezeigt hatte, wofür er das tat, was er nun mal tat, wenn er sie manchmal erst spät in der Nacht traf. Er klaute noch anderes Zeug, das er verkaufte, denn er brauchte das Geld für den "Fahrschein", wie er es nannte. Erst hatte sie Angst gehabt vor dem Zeug, sie wollte es eigentlich nicht mal probieren – doch Kai hatte gemeint, dass es ziemlich ungefährlich wäre.
In letzter Zeit brauchte er öfter ein Ticket, und irgendwann machte sie mit. Man hatte dann keinen Hunger oder kriegte es zumindest nicht richtig mit – vor allem war alles genau so weit weg, wie man es sich nur wünschen konnte. Kai und die Fahrscheine brachten das Mädchen durch den Herbst und in den Winter, der früh kam in diesem Jahr. Sie vergaß vieles – einmal fragte Kai sie nach dem Namen ihrer Mutter, aber sie erinnerte sich nur mit Mühe.
An ihrem heutigen Geburtstag hatte er ihr ein Extraticket und einen Ring geschenkt, den er auf seine eigene Weise "eingekauft" hatte. Dann war er grinsend losgezogen. "Bis später dann, du weißt schon." Aber als sie an diesem Tag in die Cafeteria kam, in der sie sich meist trafen, wenn sie genug Geld hatten schnorren können, war Kai nicht da. Sie blieb dort, bis man sie wegscheuchte, weil sie nur ein Mineralwasser bestellt hatte und sich zwei Stunden daran festhielt. Dann wartete sie vor dem Kauftempel, bis es richtig dunkel war.
Sie und Kai waren immer auf der Flucht vor der Polizei – es war klar, dass sie getrennt werden würden, wenn man sie erwischte. Kai hatte seine Zelle im Jugendknast sicher, und sie würde wohl in ein Heim kommen. Es lag auf der Hand, dass etwas schiefgegangen war mit Kai, sonst wäre er gekommen. Als der Schneeregen einsetzte, ging sie zitternd zu einem unbewohnten Haus am Stadtrand – es gab da einen Garten mit einer Werkzeuglaube. Unter einer losen Diele lag das Zeug, das sie gebunkert hatten, ihre Tickets für die Flucht aus dem Scheißleben.
Das Mädchen kramte ihren schwarz angelaufenen Esslöffel aus ihrem zerfransten kleinen Rucksack und suchte nach ihrem Feuerzeug. Das gab nicht einmal mehr einen müden Funken her, das Ding war völlig nutzlos. Panik stieg in ihr auf, aber da fand sie unter der Diele eine Streichholzschachtel, die fast voll war. Mit zusammengebissenen Zähnen und eiskalten Händen riss sie eins nach dem anderen an, um ihr Ticket im Löffel aufzukochen, denn eine Kerze hatte sie nicht.
Ihr wurde merkwürdig warm, sie verbrannte sich die Fingerspitzen und lachte dabei. Sie hatte eigentlich gar keine Angst mehr, der Zug fuhr an und nahm sie mit. Bevor sie einschlief, wunderte sie sich noch darüber, dass ihr Atem wie eine Wolke in der Luft vor ihr hing, obwohl es so schön warm war. Sie würde heute hier schlafen, und morgen würde alles gut werden, wenn sie Kai wieder traf. Der würde sicher morgen kommen, er würde sie niemals im Stich lassen. Alles würde gut werden.
Einige Tage später vermerkten die Tagesblätter der Stadt, dass spielende Kinder die jüngste Drogentote der letzten Jahre gefunden hätten und dass es dringenden Handlungsbedarf gäbe, was die Situation der obdachlosen Jugendlichen anginge.
© "Das Mädchen mit den Zündhölzern": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Mensch raucht, CC0 (Public Domain Lizenz).
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