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In den letzten Jahren wurde der Streit um Kopftücher und Kruzifixe immer lauter, und zeitweilig wird alles übertönt vom Geschrei, das um die Minarette gemacht wird. In der Schweiz wünschten die Bürger nicht, mehrmals täglich den Ruf der Muezzins zu hören und forderten Ende 2009 ein Minarettverbot.
Inwieweit die in der Schweiz lebenden Muslime sich genervt fühlen vom Glockengeläute der christlichen Kirchen, die damit die Gläubigen zur Messe rufen, ist nicht bekannt. Sollten sie ein Problem damit haben, werden sie es nicht laut äußern, denn die ganze Streiterei gründet mehr in territorialem Denken als in theologischem.
Durch die Jahrhunderte hindurch wurden Tempel und Kirchen als Symbole des Glaubens geschliffen oder entweiht von den Siegern. An Kirchen wurden nachträglich Minarette angebaut – und auch umgekehrt – immer schön im Wechsel. So wurde nach jedem Krieg und jeder Landnahme für alle sichtbar gemacht, wer das Sagen hatte. Irgendwie machte das den Sieg über den Glauben des Gegners, und somit über dessen Gott, erst perfekt. Eine sehr lange Tradition hat diese gewalttätige Art der religiösen Debatte eigentlich nicht.
Wie die Menschen der Vorgeschichte damit umgingen, wissen wir nicht genau, aber vermutlich waren die spirituellen Vorstellungen nicht sehr verschieden. Im Großen und Ganzen herrschte wohl eine Art Muttergottheitskult vor, der in eher monotheistischer Weise den Einklang mit der umgebenden Natur darstellte. Das Sterben und Wieder-Entstehen, das die Menschen umgab, ob in der Pflanzenwelt, dem Wunder der Geburt bei Mensch und Tier, oder in den Jahreszeiten, manifestierte sich in einer Verehrung der Natur, die im Allgemeinen als weiblich angesehen wurde.
Irgendwann stellte man sich die bestehende Gottheit in verschiedenen Erscheinungsformen vor, die Verkörperung der vielfaltigen Aspekte. Das war der Beginn der "Vielgötterei". Für jeden Zustand und jede Angst, vielleicht auch für Wünsche, entstanden Verkörperungen, und diese wiederum wurden mit der Zeit personalisiert. Dieses "Splitting" einer übergeordneten göttlichen Macht vereinfachte den Umgang mit dem Glauben beträchtlich. Je nach Anliegen wandte man sich an die verschiedenen Götter, die sich völlig verselbstständigt hatten.
Zwar kannte man in allen Religionen eine drei- oder mehrgestaltige Obergottheit, aber es gesellten sich ganze Scharen von mehr oder minder wichtigen Gottheiten dazu. Und die waren ziemlich ausgelastet (betrachtenswert an dieser Stelle die christliche Trinität und die Legionen von Heiligen). Man denke an den römischen Merkur, der unter anderem ebenso der Gott der Kaufleute wie der Gott der Diebe war. Ihm opferte der Kaufmann, der seine Waren über Land schickte, ebenso wie der Wegelagerer – und wen die Gottheit letztendlich vorzog, blieb wohl in ihrem Ermessen.
Die griechische Athene war für Weisheit und den Krieg zuständig, was uns heute erstaunlich erscheint. Es gab ganze Stammbäume, die bekundeten, wer von wem abstammte – im Olymp oder sonstwo. Da unterschied sich Europa nicht von Asien oder auch Afrika. In gewissen Gegenden etablierte sich der Geisterkult, und der damit stark verbundene Ahnenkult, und wurde zur allgemeinen Religion.
Aber trotz dieser Vielfalt gab es nichts, das man als Glaubenskrieg hätte auslegen können. Die Griechen und Römer waren anderen Göttern gegenüber sehr tolerant, und andere Gottheiten wurden oft in den eigenen Pantheon aufgenommen. Zudem konnte mit einigem guten Willen für jeden fremden Gott eine Entsprechung in der eigenen himmlischen Mannschaft gefunden werden, denn die Menschen hatten sich überall die personifizierten Götter geschaffen, die sie brauchten.
Die Kriege, die Rom führte, hatten nichts mit Göttern zu tun. Zwar gab es eine Ära, in der die keltischen Druiden stark verfolgt wurden, allerdings aus politischen und durchaus nicht aus religiösen Gründen. Mit den keltischen Gottheiten hatte man in Rom kein Problem. Überhaupt war man kosmopolitisch in der Antike – in jedem Hafenviertel in Rom oder Alexandria, oder in sonst einer der großen Metropolen, gab es Schreine und Tempel von fremden Göttern. Jeder Kauffahrer oder Seemann fand einen Tempel, in dem er seiner heimischen Gottheit opfern konnte.
Zusammenfassend kann man behaupten, dass niemand wild darauf war, anderen Menschen den eigenen Glauben aufzuzwingen. Das fand erst später statt, mit der endgültigen Etablierung des Christentums, und wenig später mit der des Islams. Diese beiden Religionen sind sich ähnlicher als ihre Anhänger das wahrhaben wollen, denn sie haben durchaus einen kriegerischen Aspekt, der umfassend ist und nichts mit den temporären Opfern für die Kriegsgötter der Antike zu tun hat. Vor einem Feldzug war es logisch, der Sekhmet oder dem Ares zu huldigen, waren sie für das Schlachtenglück ja zuständig. Aber Islam wie Christentum fanden gar nichts dabei, sich eine Lizenz für das Ausrotten der Ungläubigen auszustellen. Ob das nun reiner Vorwand oder eine Art spirituelles Elitedenken auf "Teufel komm raus" war, ist unerheblich.
Tatsache ist, dass bei beiden Richtungen die ursprüngliche Lehre entstellt und an den Gläubigen – je nach den Bedürfnissen der Politik und der Macht – weitergegeben wurde. In Zeiten, in denen die allermeisten weder lesen noch schreiben konnten, war es einfach, den Glauben als Machtinstrument zu nutzen. Kein einfacher Mann auf der Straße konnte den Finger auf eine Bibelstelle legen und sich auf sie berufen. In einigen der muslimisch geprägten Länder ist der Prozentsatz der Analphabeten noch heute recht hoch, was die Instrumentalisierung sehr vereinfacht.
Vor der Entstehung dieser beiden großen Religionen hielten die Menschen die Religion für eine Sache, die jeder für sich zu entscheiden hatte. Sollten wir es wieder dahin bringen, wären wir dem, was man gemeinhin "Zivilisation" nennt, endlich einmal wirklich nahe gekommen. Der Streit um Glaubenssymbole ist grundsätzlich ein Vorwand und hat eher mit den Symbolismen der Macht zu tun.
Eigentlich sollte man das nicht ernst nehmen und darüber lachen, aber leider bleibt es einem im Halse stecken. Und die Götter der Alten wundern sich.
© "Setzt Gott auf freien Fuß – Der Streit um Kopftuch und Minarett": Textbeitrag und Abbildung: Winfried Brumma (Pressenet), 2009.
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