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Es war kein guter Tag für Frau Mautz. Trotz ihres Ärgers ging sie mit demselben strammen Schritt, wie sonst auch, in den Park der Stadt, um ihre tägliche Runde zu absolvieren. Es war ein sehr schöner, sonniger Tag, aber Vera Mautz nahm es nicht so richtig wahr, weil ihre Augen hinter der großen Sonnenbrille von Tränen verquollen waren.
Als sie das Rondell mit den Blumenbeeten erreichte, war sie richtig erleichtert, dass ihre bevorzugte Bank völlig frei war, und so ließ sie sich mit einem Seufzer darauf nieder. Mit gerunzelter Stirn dachte sie über die Kränkungen nach, die man ihr an den Kopf geworfen hatte: "Meine Güte, Mutter. Sogar du warst einmal jung. Du kannst doch nicht verlangen, dass der Junge sich auf Zehenspitzen bewegt. Das ist hier schließlich kein Altersheim!"
Das waren die Worte, die ihr eigener Sohn für sie hatte, nur weil sie etwas aufgeregt war über diesen unsäglichen Krach, der aus dem Zimmer ihres Enkels kam. 'Musik' nannte er das. Es gab keine erkennbare Melodie oder Rhythmus, nur dieses entsetzliche Bumm Bumm, das den Boden dröhnen ließ. Natürlich hatte das Früchtchen längst leiser gedreht gehabt, als die Eltern heimkamen, und sie war dann natürlich die Überempfindliche.
Dann hatte es dieses Gespräch gegeben – oder besser gesagt, diese Werbeveranstaltung. Man wollte ihr – zu ihrem eigenen Besten – eine Seniorenresidenz schmackhaft machen. Da wäre es natürlich viel ruhiger und sie könnte sich mit gleichaltrigen neuen Bekannten einen schönen Lebensabend machen. Vera Mautz witterte Schlimmes – man wollte sie aus ihrem eigenen Haus hinauskomplimentieren. Ihr Sohn war mit seiner Familie zu ihr in das Reihenhaus gezogen, nachdem sie Witwe geworden war. Anfänglich war Vera das sehr recht gewesen, es milderte ihre Trauer und sie fühlte sich nicht mehr so einsam, schließlich war sie viele lange Jahre lang nicht mehr allein im Haus gewesen. Doch mit der Zeit kam sie sich eher wie ein lästiger Besucher vor.
Wie es genau vor sich gegangen war, dass sie auf einmal nur noch ein Zimmer für sich hatte, während die Familie ihres Sohnes nun zwei Stockwerke in Beschlag nahm, konnte sie nicht so richtig nachvollziehen. Irgendwie war sie im Nähzimmer gelandet, einem Raum, der hinter dem Wohnraum im Erdgeschoss lag. "Damit du nicht die Treppen steigen musst, Mutter." Vera schnaubte verächtlich. Auch mit 68 Jahren war sie immer noch sehr gut beisammen und nahm einen Fahrstuhl nur, wenn sie es nicht vermeiden konnte. Jeden Tag war sie auf ihren rüstigen Beinen unterwegs in der frischen Luft und wahrscheinlich besser zu Fuß als Sohn und Schwiegertochter, denen nie etwas anderes einfiel, als den Abend vor der Glotze auf der Couch zu verbringen. Das sah man den beiden auch an, dachte Vera Mautz gehässig.
Am Schlimmsten hatte sie getroffen, was der Junge – ihr hoffnungsvoller Enkel – gesagt hatte. Es war zwar nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen, aber der Bengel war wohl halb taub von dieser Trommelfellfolter, die er sich antat – und so hatte er ziemlich laut zu seinen Eltern gesagt: "Die Olle hat doch keine Ahnung von Mucke, die ist doch von vorvorgestern. Ich hab keinen Bock auf den Mist, ey."
Das hatte getroffen, denn Vera Mautz liebte Musik, wenn es sich denn um solche handelte, und verstand jede Menge davon. Hinter der Sonnenbrille begannen Veras Augen zu glitzern, als sie sich an die alten Zeiten erinnerte. Alles hatten sie gespielt, damals in den frühen Sechzigern. "Cat and the Roof Boomers" – das war der Name gewesen, und "Katze" wurde sie wegen ihrer schrägen grünen Augen genannt. Sie war die Sängerin der Band gewesen, und jeder hatte ihr eine tolle Stimme bescheinigt. Ein wenig rauchig, aber sehr angenehm ... genau richtig für die Rock'n' Roll- und Beatnummern, die sie an den Wochenenden in den Clubs und bei den Vereinsfesten gespielt hatten.
Es war eine tolle Zeit gewesen damals, und eigentlich hatten alle von einer großen Karriere geträumt. In der Stadt und im Umland waren sie schon ziemlich bekannt gewesen zu der Zeit – aber dann war der Beruf wichtig, es gab Verlobungen und Heiraten. Die Karriere legte man erst auf Eis, dann verlor man sich aus den Augen. Vera seufzte tief, während sie ihren Erinnerungen nachhing. Und nun, so dachte Vera, nun sollte man nichts weiter sein als eine alte Frau, die störte.
Grimmig dachte sie daran, was es für einen Aufruhr gegeben hatte, als sie sich ein Notebook anschaffte. Der Junge hatte höhnisch gelacht und ihr Sohn hatte gemeint: "Glaubst du, dass du damit zurechtkommst, Mutti?" Da war sie ziemlich wütend geworden und hatte schnippisch gemeint, sie wolle auch etwas davon haben, wenn sie den Internet-Anschluss bezahle. Und tatsächlich war sie sehr gut damit zurechtgekommen.
Plötzlich hatte Vera "die Katze" Mautz eine Idee. Geradezu beschwingt legte sie den Weg nach Hause zurück, wo sie sich sofort in ihr Nähzimmer verzog und den kleinen Wunderkasten einschaltete. Das zaghafte Klopfen an der Zimmertür überhörte sie, ebenso wie den Streit im Wohnzimmer und das Türenknallen aus dem oberen Stock. Tatsächlich drangen diese Geräusche nicht in ihr Bewusstsein, denn sie verfasste eine Anzeige. Vor einiger Zeit hatte Vera sich in einigen Seniorenportalen angemeldet, fand diese aber fürchterlich langweilig, weil ihr die Themen in den Foren nicht lagen. Es ging meist um Krankheiten oder um Gartenpflege, Reisen oder ähnliches. Aber jetzt hatte sie ein wirkliches Anliegen, sie suchte etwas. "Zu irgendetwas muss das Ganze ja gut sein", dachte sie sich. "Es kann ja nicht nur Freizeitgärtner in meinem Jahrgang geben."
In den folgenden Wochen veränderte sich die Atmosphäre in dem gepflegten Reihenhaus spürbar, denn "Oma" blieb meist unsichtbar. Entweder war sie mit unbekanntem Ziel unterwegs oder sie saß vor ihrem Notebook. Das wäre eigentlich ganz im Sinne ihrer Mitbewohner gewesen, doch waren diese eher misstrauisch als erleichtert, denn durch das sonderbare Verhalten Veras kamen doch gewisse Ängste in Bezug auf die bequeme Wohnsituation auf. Man zahlte keine Miete und hatte doch ein ganzes Haus zur Verfügung. Blieb nur noch, den Idealzustand zu erreichen – nämlich, dass Oma sich endlich in ein nettes Heim für Senioren verfügte. Man versuchte daran zu arbeiten, kam aber nicht so recht weiter und fand die kleinen aber spürbaren Veränderungen recht enervierend. Hätte man gewusst, was sich über dem adretten Dach zusammenbraute, wäre man wohl in Panik verfallen – aber der Schlag sollte unverhofft kommen.
In der Zwischenzeit nämlich hatte Vera sehr viele Antworten auf ihre Suchanzeigen bekommen – weit mehr, als sie sich erhofft hatte. Sie las sie alle und antwortete auf jede in sehr freundlicher Weise. Dann sortierte sie nach Wohnort, denn allzu mobil war sie ja nicht. Die übrigen Angebote ging sie dann noch einmal gewissenhaft durch und bat um Fotos. Die sich entwickelnde Korrespondenz machte Vera richtig Spaß. Es tat so gut, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen – etwas, wovon sie gar nicht gewusst hatte, wie sehr sie es vermisste. Und als es so richtig Sommer geworden war in der Stadt, machte sich eine sehr attraktive ältere Dame wie gewöhnlich auf den Weg zum Park. Doch stoppte sie dieses Mal nicht bei den Bänken am Rondell, sondern ging weiter zum großen Biergarten, immer wieder nervös auf ihre Armbanduhr schauend. Hier war ziemlich viel Betrieb, aber sie blieb am Eingang stehen und ließ ihren Blick prüfend über die sitzende Menge gleiten.
Die schlanke Frau in Jeans und langer Lederjacke, die ihr weißes Haar kurz geschnitten trug, und ihre Augen mit der Hand beschattete, fiel ins Auge – und bald hörte sie ihren Namen. Drei winkende Männer, die es sich an einem Tisch unter einem riesigen Sonnenschirm gemütlich gemacht hatten, waren die Rufer. Mit einem leicht flauen Gefühl im Magen steuerte Vera auf den Tisch zu, an dem sie begeistert begrüßt wurde. Die Herren hatten sich erhoben und klatschten übermütig Beifall, was der Katze sofort die Befangenheit nahm. "Erich Graumann, Bass." Mit diesen Worten streckte der ihr am nächsten stehende Mann die Hand aus. Dann folgten "Kurt Bellemer, Schlagzeug, und Werner Hahn, Gitarre."
Vera war hingerissen und stellte sich ihrerseits mit "Vera Mautz, Gesang" vor. Dann wurde es sofort gemütlich. Und das blieb es, bis der Biergarten geschlossen wurde, und das Quartett sich trennte. Sie hatten ihre Geschichten ausgetauscht, die sich alle ähnelten und von Langeweile und Nutzlosigkeit handelten ... von Abschiebung und Selbstzweifeln. Und von der Musik, die in vier Leben einmal eine ganz große Rolle gespielt hatte – und wieder spielen sollte. Hart an die siebzig waren sie alle, aber noch immer neugierig, und vor allem wieder bereit für ihre alte Liebe – den Sound ihrer Jugend.
Und so kam es, dass Veras Familie nach einem Ausflug, der den ganzen Morgen gedauert hatte, in eine Probe der "Grauen Dachkatzen" platzte. Vom Haus führten Kabel in die Garage, die weit offen stand und in der Vera und ihre drei Freunde gerade Platz für das Schlagzeug schufen. Der kleine Bus, der in der Einfahrt stand, war schon recht irritierend gewesen, wenngleich die erschütternden Ankömmlinge nicht ahnten, dass eine neue Ära begonnen hatte.
Als die drei verstörten Angehörigen der Katze dann missmutig um den Küchentisch herumsaßen und von draußen "Ol' Man River" erklang, bluesig und von einer ausdrucksstarken rauchigen Stimme gesungen, da sagte der totenbleiche Sohn Veras zu seiner Frau: "Hast du die Zeitung von heute schon weggeworfen? Ich brauche den Teil mit den Wohnungsangeboten."
© "Frau Mautz und 'Die Grauen Dachkatzen' – Die Bremer Stadtmusikanten heute": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Bremer Stadtmusikanten, CC0 (Public Domain Lizenz).
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