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Als Kinder, und später als pubertierende Unmöglichkeiten, hatten wir diesen Spruch gehasst: "Das hätte es früher nicht gegeben!"
Sie waren immer dabei, sich aufzuregen, die Älteren. Und sie hatten so wenig Grund dazu. In meiner Kindheit machten die Mädchen einen Knicks und die Jungen einen Diener, bevor sie die Hand ergreifen durften. Nicht das "schöne Händchen" gegeben zu haben, weil man in der rechten noch ein Bonbon umklammerte und sich das mit den Händen sowieso nicht merken konnte, führte nicht selten zu Familienstreitigkeiten.
Man mutmaßte ein düsteres Erbe, das sich von einer Seitenlinie aus immer wieder einmal bemerkbar machte, hatte doch dieser oder jener Onkel schon die ganze Familie blamiert, indem er Knallfrösche aus dem Fenster geworfen hatte. Jedenfalls würde man genau so enden, das stand fest. Wie es mit dem betreffenden Onkel geendet hatte, wurde allerdings nicht öffentlich bekanntgegeben. Vermutlich war er nach Amerika ausgewandert und Knallfroschfabrikant geworden.
Neben den vielen rutschigen Stellen auf dem gesellschaftlichen Parkett gab es für Kinder noch andere Gründe, Besuche zu hassen. Meist wurde man vorgeführt wie ein dressierter Pudel. Damals, nicht lange nach dem Krieg, verhätschelte man die Kinder zwar (weil man es endlich konnte), aber man verlangte auch unbedingten Gehorsam. Die lieben Kleinen hatten also zu knicksen und sich abbusseln zu lassen. Ob sie wollten oder nicht. Zuweilen musste dem Besuch auch eine besondere Fertigkeit vorgeführt werden, wie ein allerliebstes Singen oder Aufsagen eines Sinnspruches oder dergleichen.
Kleine Mädchen trugen Petticoats oder Faltenröcke mit Trägern, und die Jungens kurze Lederhosen mit Strickjacken. Und die Prügelstrafe war auch noch nicht abgeschafft und galt als moderates Mittel. Und niemanden interessierte das. Dass Kinder Rechte haben könnten, war für die Familien nicht vorstellbar. In nicht wenigen Wohnzimmern hing noch ein Riemen an einem Haken hinter der Tür. Und Widerreden gab es sowieso nicht.
Im günstigsten Fall wurde ein geheulter Einspruch von wegen "jetzt schon schlafengehen" lachend abgetan. Im ungünstigeren Fall wurden schlimmste Strafen verhängt. Da konnten Vergünstigungen wie zum Beispiel ein Jahrmarktsbesuch schnell radikal gestrichen werden. Bei sprachlichen Verfehlungen wurde in strengeren Familien oder auch Kindergärten noch das "Mund mit Seife auswaschen" praktiziert. Von heutiger Sicht aus wünsche ich den Erwachsenen von damals nur einen einzigen Nachmittag auf einem Spielplatz im Jahre 2009 – und ihre Reaktionen auf das, was heute so in freundlichster Absicht rumgebrüllt wird, hätte ich gerne auf Video. Dann wären wir für das "schöne Händchen" quitt.
Aber die Kindheit hatte auch andere Seiten. Fernsehen gab es nur bedingt, und für Kinder sowieso nur eine Stunde täglich Programm. Da wurde gebastelt mit Tante Erika, oder der Holsteiner Kasperle zeigte Geschichten und Märchen. Absolute Höhepunkte waren sonntags die Augsburger Puppenkiste oder Lassie. Sonst spielten wir. Das sah für gewöhnlich so aus, dass man je nach Geschlecht mit Autos oder Puppen und dem jeweiligen Zubehör stundenlang in anderen Welten versunken war. Es gab auch immer etwas zu basteln oder zu konstruieren, und wo etwas nicht verfügbar war stellte man es sich vor.
Die Sachen spielten nicht von alleine, wie manche elektronische Pausenfüller heutzutage. Welten erfand man sich selber, brachte sie vielleicht sogar zu Papier, mit diesen kreativitätstötenden Wasserfarben. Wir lasen viel und begeistert. Bei Regentagen auf dem Teppich lümmelnd und mit einem Herrn namens Kara Ben Nemsi den Orient befrieden war eine Kleinigkeit für uns damals, ebenso wie den Betrieb in einem Mädcheninternat mit zickenden Heldinnen organisieren. Und Winnetou kam völlig ohne Cheats aus. Die hätte er sowieso nicht benutzt.
Aber ich will nicht sentimental werden. Wehmütig denke ich, dass uns die Erwachsenen damals überhaupt nicht verdient hatten. Wir waren viel zu nett. Und außerdem begabt. Irgendwie schafften wir es, uns zu verabreden, zu kommunizieren und Freunde zu haben ohne Handy.
Vermutlich waren wir Telepathen.
© "Gute Zeiten, schlechte Zeiten? Familie, Kindheit und Pubertät": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Puppentheater, CC0 (Public Domain Lizenz).
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