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Grenoble, 1535
"Vater unser, der du bist im Himmel ... Pater noster, qui es in caelis ... Fiat voluntas tua ... Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos ... libera nos ... libera ... "
Sein Mund war trocken und er musste husten. Schnell versuchte er, das Geräusch in den Resten seines alten, schmutzigen Habits zu ersticken. Endlich hatte er ihn gefunden, den Apostaten, den Hexer, die alte Schlange.
"Serpens antique, adiuro te ... "
Auch der Exorzismus blieb ihm wie ein Stein im Halse stecken. Kälte und Hunger machten seine Stimme rau. Hilfesuchend griff er nach dem Amulett, seinem einzigen Besitz. Er betastete es mit ruhelosen Fingern, versuchte sich an die Worte zu erinnern, die das darin eingeschmolzene Papier enthielt. Vergeblich.
Die kalten Winde des Spätwinters fuhren erbarmungslos in sein zerrissenes Habit und ließen die schwarze Kapuze seiner Kutte heftig um seine lang gewordenen Haare flattern.
Vorsichtig bog er ein paar kahle Äste des Busches zurück, hinter dem er sich verborgen hielt. So konnte er das Haus besser sehen. Hinter den Fenstern war es dunkel.
"Serpens! Draco nequissime ... Verfluchter Drache ... "
Eifrig folgten seine Finger den Gravuren des Amuletts. Vorne der Reiter, hinten die Sichel. Reiter, Sichel, Reiter, Sichel. Im Westen versank die Sonne hinter den Bergen und hinterließ einen roten Schein wie Höllenflammen.
"Dir und deinen Engeln ... Tibi, et angelis tuis ... ist ein unauslöschliches Feuer bereitet!"
Drohend schwenkte er eine Faust nach dem dunklen Haus und das unheimliche Flackern des Abends zeichnete Ströme von Blut auf seine Haut. Hinter einem Fenster erstrahlte ein heller Schein. Zuerst dachte er, es sei der Hexer, der sich ein Licht ansteckte, doch das Leuchten schien zu weiß und rein. Sein Herz schlug schneller. Auf bloßen Füßen wagte er sich aus den Büschen heraus bis an den Gartenzaun.
"Immaculata", hauchte er. "Unbefleckte."
Dann sah er ihr Gesicht am Fenster, umflort von ihrem klaren Schein. Fieberrote Lippen lächelten ihm zu. Die Hunde im Haus wurden wild. Bestimmt fühlten sie schon die ewigen Feuer an ihren schwarzen Pfoten lecken. Diesmal würden sie nicht entkommen. Sie würden büßen für alles, was sie ihm angetan hatten.
"Tibi, et angelis tuis", zischte er. "Tibi, et angelis tuis, inexstinguibile preparatur incendium!" Dann seufzte er weich: "Immaculata ... "
Er folgte ihrem Leuchten um das Haus herum zur Straße, wo der Schlamm tiefer stand und ihm das Vorwärtskommen schwerer fiel. Zur Front des Hauses hin waren die Klappläden geschlossen. Im Obergeschoss flackerte eine einzelne Kerze. Das Tiefblau der aufziehenden Nacht drohte sie auszulöschen. Genau wie das Lebenslicht seines Feindes, begriff er. Der Hexer lag auf seinem Sterbebett.
Die Hunde wollten sich gar nicht mehr beruhigen. Vielleicht schnappten sie bereits nach der scheidenden Seele. Die Vorstellung war ihm willkommen und er fühlte sich so leicht und froh wie seit langem nicht mehr.
"Tibi, et angelis tuis", wiederholte er wie ein Mantra. "Tibi, et angelis tuis."
Erwartungsvoll ließ er sich dem Haus gegenüber auf das verdreckte Straßenpflaster sinken.
Am Morgen darauf blieben die Läden geschlossen und das Gebäude gab sich abweisend leer. Der Mönch glaubte, im Sterbezimmer jemanden klagen zu hören. Endlich war alles vorbei. Agrippa, der Hexer, lebte nicht mehr. Sein Engel aber musste im Sterbehaus geblieben sein. Alleine mit Agrippas Höllenhunden. Es missfiel dem Mönch, sie dort allein zu wissen.
"Vater unser ... libera nos ... ", versuchte er zu beten, doch der Husten machte es ihm unmöglich.
Gott wachte über seine Engel, beruhigte er sich. Sie brauchte ihn nicht.
Wenig später trat seine Immaculata durch die Türe, völlig unversehrt. Sie lächelte ihm freundlich zu und hob wie zum Gruß die Hand. Da stürmten zwei Schatten an ihr vorbei auf die Straße. Scharfe Zähne schnappten nach dem Mönch. Entsetzt erkannte er Agrippas Höllenhunde. Schwarz und drohend bauten sie sich vor ihm auf, knurrten und geiferten. Er rannte los. Rannte, so schnell ihn seine wunden Füße trugen. Ein dumpfes Lachen folgte ihm. ...
Aufgepasst: Die Horror-Erzählung von Lea Reiff umfasst rund zwanzig weitere Seiten. Wer keine Angst vor der 13 hat, liest weiter in "Zwielicht – das deutsche Horrormagazin", das nun in der XIII. Ausgabe vorliegt. Die Herausgeber Michael Schmidt und Achim Hildebrand bieten die gewohnte Mischung aus Kurzgeschichten und Übersetzungen, sowie als Bonus drei weitere, interessante Beiträge.
"Zwielicht 13" ist als Taschenbuch im Buchhandel erhältlich (316 Seiten, ISBN 978-1088592427). Der Horrorband wurde im Juli 2019 veröffentlicht. Als E-Book auch über Buchhandels-Plattformen.
Das Titelbild wurde auch hier, wie bei vielen anderen Bänden dieser Serie, von Björn Ian Craig entworfen.
Horror-Erzählungen in "Zwielicht 13":
Albert Richard Wetjen – Schiff des Schweigens (1932)
Carl Denning – Elsa
Lea Reiff – Der Mönch und die Pest
Nina Teller – Das Monsterritual
Tomas Schauermann – Du musst
Werner Hermann – Der Pentagondodekaeder von Gramatneusiedl
Waldemar Klauser – Dark Waters
Johanna Landes – Flüsternde Schatten
Ansgar Sadeghi – Das perfekte Riff
Gard Spirlin – Dann singe ich ein Lied für dich
Jana Grüger – Mann beißt Hund
Jens-Philipp Gründler – Luzide Träume
Stefan E. Pfister – Der Fettwächter
David Wright O'Brien – Das Alp-Traumhaus (1943)
Catharina Bombardi – Rote Blumen im Schnee
Thomas Kodnar – Die Hand
Ralf Kor – Das Sterben der Unartigen
Karin Reddemann – Nette Kerle
Algernon Blackwood – Egyptian Sorcery (1921)
Textbeiträge in "Zwielicht 13":
Achim Hildebrand – Die Bean Family
Karin Reddemann – Völlig unmöglich, damit aufzuhören, Leute zu vergiften
Ralf Steinberg – Jenseits sonnendurchfluteter Sommertage
Noch mehr Horror und Phantastik lesen: Zwielicht Classic 14: Onkel Herberts große Stunde.
© "Der Mönch und die Pest": Den Herausgebern und den beteiligten Autoren sagen wir herzlichen Dank für diese Textauswahl, 09/2019.
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