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1968 war ein grausames Verbrechen der Auslöser für ein sozialpsychologisches Experiment: Bei dem Verbrechen handelte es sich um einen Mord, begangen an einer jungen Frau in New York. Die Tatsache, dass dieser Mord von etwa 38 Anwohnern beobachtet wurde und nicht einer eingriff oder auch nur die Polizei anrief, veranlaßte die Sozialpsychologen Darley und Latane dazu, nach den Gründen zu forschen.
Sie fanden neue Antworten; abseits der "medientauglichen" Erklärung, dass das Großstadtleben Menschen abstumpfe und Ignoranz und Gleichgültigkeit Grund für das Nichteingreifen seien. Ihre (bestätigte) Hypothese lautet: Je mehr Menschen Zeuge eines Notfalls oder eines Verbrechens sind, desto weniger helfen.
Und hier stelle ich mir die Frage: Ist es nicht in anderen, augenscheinlich zunächst weniger dramatischen Bereichen, genau dasselbe? Wie ist es denn zum Beispiel mit der Verantwortung gegenüber Jugendlichen und Kindern? Der Verantwortung, Werte und Moral zu vermitteln und zu ermöglichen?
Zunehmende Aggressionen, Gewalttaten und Amokläufe werden doch banalisiert, wenn man immer wieder nur zu "augenscheinlichen" und bequemen Schuldzuweisungen greift: Die Computerspiele sind schuld, weil sie Gewalt verharmlosen. Der Lehrer ist schuld, weil er ungerecht ist. Der Vater ist schuld, weil er Mitglied im Schützenverein ist. Die Mädchen sind schuld, weil sie den Jungen gehänselt haben. Der Staat ist schuld, weil es keine besseren Schutzmaßnahmen an der Schule gibt. Das Sozialsystem ist schuld, weil kein Sozialpädagoge die prekäre Lage erkannt und eingegriffen hat.
Kann es sein, dass je mehr "Institutionen" theoretisch "zuständig" sind, die Chance steigt, dass keine davon aktive Verantwortung übernimmt? Statt zusammenzuarbeiten schiebt einer die Verantwortung auf den anderen. Vor lauter Streit und bürokratischen "Lösungsversuchen" wird eines übersehen: Das wirkliche Leben läuft währenddessen weiter und täglich, stündlich, werden Chancen verschenkt – Gelegenheiten zu helfen und "da zu sein".
Und wie passt dieses Phänomen mit einer weiteren wissenschaftlichen Entdeckung zusammen: Es gibt im Gehirn so genannte Spiegelneuronen, die für unsere Fähigkeit, mitfühlen zu können, zuständig sind. Jeder von uns besitzt sie und ist dadurch in der Lage, die Empfindungen anderer so wahrzunehmen, als ob es die eigenen sind. Das erklärt, wieso wir im Kino weinen können, wieso wir Mitleid empfinden und wieso wir uns – zumindest theoretisch – in die Lage anderer hineinversetzen können.
Wir haben also die angeborene Fähigkeit, uns in Situationen und Empfindungen einzufühlen, die uns nicht persönlich und unmittelbar betreffen. Wir müssen uns dazu nicht anstrengen oder bewusst etwas tun; es handelt sich um einen Automatismus, der größtenteils unbewusst abläuft.
Wir neigen aber auch dazu, uns aus der Verantwortung "zu stehlen", sobald weitere Personen anwesend sind: Ebenfalls unbewusst und ohne "böse" Absicht.
Dieser scheinbare Widerspruch erklärt, wie aus einer Gesellschaft, in der sich die Menschen noch in den 50er und 60er Jahren für eine bessere Zukunft engagierten, inzwischen eine Gesellschaft aus ängstlichen und resignierten Menschen werden konnte: Je größer die Möglichkeiten der Vernetzung, der sozialen Eingebundenheit und der unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollenerwartungen an den Einzelnen werden, desto mehr steigt auch die Wahrscheinlichkeit, in ein passives Erwartungsschema abzurutschen und davon auszugehen, dass "die anderen" schon machen werden: "Was kann ICH schon tun ..."
UND: Bei beiden Anlagen handelt es sich "nur" um Potenziale, die im menschlichen Gehirn angelegt sind. Ob sich Potenziale entfalten können oder nicht, hängt von den vielfältigen Konditionierungen ab, die jeder von uns im Laufe seines Lebens erfährt – die meisten davon ebenfalls unbewusst. So wie unterschwellige Werbung funktioniert, funktioniert auch jede andere Beeinflussung.
Solange wir also die mundgerecht zubereiteten Feindbilder, Rollenerwartungen und "Normen" brav schlucken, anstatt selber zu denken und zu hinterfragen, wird die "Masse der anderen" immer größer und unser Potenzial, mitzufühlen und Verantwortung zu übernehmen, bleibt vergraben. Wir werden (oder bleiben??) manipulierbar und sind gleichzeitig ideale Sündenböcke, weil ja auch für die anderen immer die anderen schuld sind.
© "Einsame Masse? Oder sozial geboren und massenweise vereinsamt?": Ein Textbeitrag von Sabine Siemsen; Bildnachweis: Schreiende Person, CC0 (Public Domain Lizenz).
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