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Die Meldungen jagen einander – hat man die Betroffenheit über die eine Nachricht gerade überwunden, folgt schon die nächste. Häufen sich die Fälle in wirklich besorgniserregender Weise, oder fällt es einfach mehr auf? Es geht um Verbrechen an Kindern.
Und damit sind hier keine Morde, Entführungen und Sexualstraftaten gemeint, die von einschlägig vorbestraften Kriminellen verübt werden, sondern von denen, die für das Wohl und Wehe der Kinder zuständig sind. Hier sind die Unbegreiflichkeiten gemeint, die den Kindern von den Eltern zugefügt werden.
Tote Babys werden gefunden, geradezu gehortet in Gefriertruhen oder Kisten, sogar in Blumenkübeln – Jahr für Jahr etwa 30 bis 50 Fälle in Deutschland. Die Öffentlichkeit ist fassungslos, Verbrechen an Kindern sind wohl das Schlimmste, das man sich vorstellen kann.
Aber da tun sich auch Fragen zu diesen Fällen auf. In diesen Zeiten, in denen es so gut wie unmöglich ist, dass irgendetwas, das die Lebensumstände eines Menschen betrifft, nicht amtlich oder ärztlich erfasst ist, soll eine Frau es fertigbringen, mehrere Schwangerschaften unbemerkt hinter sich zu bringen.
Sie soll dann alleine, unter recht ungeeigneten Umständen, entbinden und dann, nachdem sie die Babys getötet hat, weitermachen wie zuvor. Und niemand merkt irgendetwas davon. Das allein ist erstaunlich – aber so Ehemänner oder Gefährten involviert sind, die angeblich nichts von den Schwangerschaften und den toten Kindern wussten, wird es geradezu märchenhaft. Denn so etwas gehört in den Bereich der Sage.
Wer mit einem Menschen zusammenlebt, also das Leben, den Wohnbereich und das Bett teilt, kann kaum eine Erkältung des anderen übersehen, geschweige denn eine ernste Krankheit. Außerdem wird jede Stimmungsschwankung wahrgenommen. Eine fortschreitende Schwangerschaft kann vielleicht vor gleichgültigen Nachbarn, bestimmt aber nicht vor dem Mann verborgen werden. Zudem kann man eine Geburt wohl kaum auf einen Zeitpunkt verlegen, an dem der Partner nicht zu Hause ist. Das mag vielleicht einmal zufällig so klappen, aber nicht bei mehreren Geburten.
Sehr oft heißt es allerdings, dass dem Mann nicht nur keine Mittäterschaft, sondern auch das bloße Wissen um die Schwangerschaften und die Geburten nicht nachzuweisen sei. Das ist mindestens so unbegreiflich wie die Tat der Frau. Und es ist nicht nachvollziehbar, wieso man zulässt, dass sich die mindestens ebenso mitschuldigen Partner aus der Verantwortung lügen können.
Was für Gemeinschaften sind das, in denen solche Dinge geschehen? Wie sehr muss eine Frau sich im Stich gelassen fühlen, damit sie ihrer Verzweiflung Raum gibt? Oder wie sehr muss sie abhängig sein, um ihre Kinder zu verleugnen und sie aus der Welt zu schaffen, wenn sie nicht gewünscht werden? Und es muss nicht sie selber sein, die sie nicht wünscht.
Es ist anzunehmen, dass diese Frauen kaum oder gar keine soziale Kontakte hatten, oder aber bei etwaigen Kontakten zur eigenen Familie kein Vertrauensverhältnis bestand. Wahrscheinlich gab es nicht einmal eine "beste Freundin". Ein von der sozialen Gemeinschaft völlig isolierter Mensch, dessen Kosmos mit der Zeit nur aus sich selber und/oder einem anderen Menschen besteht, wird nicht mehr dazu in der Lage sein, normal zu reagieren. Aber das allein kann nicht der Grund dafür sein, sich selber einer solchen Folter zu unterziehen, körperlich wie seelisch. Neugeborene Kinder zu töten ist mit Sicherheit nichts, das keine Spuren hinterlässt.
Es muss unglaublich viel vorgefallen sein, damit dies überhaupt durchführbar ist. Rein aus dem Gefühl heraus könnte man Parallelen zu den in Gefangenschaft lebenden Tiermüttern ziehen, die ihre Nachkommen töten, wenn man sie nicht daran hindert. Dies wird als natürliches Verhalten angesehen und geschieht z. B. in den Transportkäfigen der Tierfänger, wenn Menschenaffen-Weibchen mit Jungen gefangen wurden – als wollten sie ihre Nachkommenschaft nicht dem Leben in Gefangenschaft überlassen. Natürlich handelt es sich bei den bekannten Kindstötungen in Deutschland nicht um Tiere, aber um so grausiger ist es.
Auffallend ist, dass die Frauen mit ihren toten Kindern lebten. Sie umgaben sich mit ihnen. Dazu gehört entweder eine ins Unermessliche gesteigerte Gefühlskälte, oder aber genauso angewachsene Verzweiflung. Beides führt wahrscheinlich zu mindestens zeitweisem Wahnsinn. Die Option, die Kinder dem Staat zu überantworten, wurde nicht wahrgenommen, da dies die Geheimhaltung unmöglich gemacht hätte. Und das Verbergen scheint der zentrale Punkt bei den Verbrechen zu sein.
Auffallend ist weiterhin, dass die toten Babys nicht auf irgendeiner Müllkippe oder in einem Waldstück "entsorgt" wurden. Die Chancen, dass ein so winziges Grab an einer abgelegenen Stelle entdeckt wird, ist nicht sehr hoch. Also wollten die Mütter sie um sich haben, aber nicht lebendig? Wollten sie ihnen etwas ersparen? Oder wollten sie sich selber etwas ersparen?
Die These von den eiskalten Mörderinnen ist wahrscheinlich nicht haltbar. Wenn sich in einer Gesellschaft – die keinen Mangel leidet, wie es bei einem Krieg oder einer Naturkatastrophe der Fall wäre, also eine Mindestversorgung grundsätzlich gewährleistet ist – solche Dinge abspielen, muss man das als Warnsignal sehen.
In einer Gesellschaft mit gesundem sozialem Gefüge und funktionierender emotionaler Interaktion ist so etwas nicht denkbar, es kann schlichtweg nicht geschehen (außer bei konkretem Wahnsinn in klinischem Sinne, der von einer gleichgültigen Umwelt nicht wahrgenommen wird).
Es sei erlaubt, in den meisten Fällen daran zu zweifeln.
© "Schattenkinder: Kindstötungen an Neugeborenen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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