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Ich schaute ihm nach, meinem lieben Edgar, bis er das Haus erreicht hatte. Mir schien es unendlich lange, bis endlich das Licht anging, und noch länger erschien es mir, bis endlich die Tür geöffnet wurde. Im Lichtkegel sah ich einen Mann im Morgenmantel und Edgars Gebärden nach konnte ich annehmen, dass er von der Panne berichtete.
"Warum kommt er denn nicht? Es kann doch nicht so lange dauern, bis der Pannendienst verständigt ist", dachte ich. Ich bekämpfte die aufsteigende Panik. Gerade als ich überlegte, ob ich das schützende Gehäuse des Autos verlassen sollte, um mich zum Haus zu begeben, öffnete sich die Tür und Edgar stürzte heraus. Ich hörte seine hastigen Schritte und kleine Steinchen nach allen Seiten stieben, so schnell rannte er zum Auto. Weil ich nicht schnell genug öffnete, rüttelte er hysterisch an der Wagentür. Schwer atmend ließ sich mein geliebter Edgar auf den Fahrersitz sinken und knallte die Tür zu. Im schwachen Licht des Armaturenbretts glaubte ich zu erkennen, dass er sehr blass war, und seine Hände zitterten.
"Edgar", fragte ich sanft, "was ist passiert? War etwas in dem Haus, das dich erschreckt hat?" Doch es schien, als sei Edgar gar nicht anwesend.
"Edgar", beinahe schrie ich und schüttelte ihn verzweifelt, "erzähle, in dem Haus muss etwas gewesen sein, das dich erschreckt hat."
Noch immer war er nicht in der Lage, zu reagieren. Ich fühlte seinen Puls und bemerkte dabei seine eiskalten Hände. Dabei hatte ich das Gefühl, dass er kurz vor einem Kreislaufkollaps stand. Als ich ihm über die Wange streichelte, bemerkte ich kalten Schweiß.
"Es kann nicht sein", wimmerte er plötzlich, "sie ist tot, sie ist tot!"
Ich erschrak und wurde aus seinem Gewimmer nicht schlau. "Wer ist tot?", fragte ich mehr als ein Mal.
"Das Mädchen, das vorhin noch bei uns im Auto gesessen hat", brachte er mühsam hervor.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Endlich war er soweit, dass er reden konnte: "Als ich geklingelt hatte, dauerte es nicht lange und der Hausherr öffnete mir. Er hatte einen Morgenmantel an. Seine ganze Familie war schon zu Bett gegangen. Der Mann führte mich ins Wohnzimmer, nachdem ich noch unter der Haustür von der Panne erzählt und nach einem Telefon gefragt hatte. Die Frau und der Sohn kamen noch dazu, beide in ihre Morgenmäntel gehüllt. Sie waren sehr freundlich und fragten, ob ich ein Glas Wasser trinken wolle. Ich verneinte, weil ich so schnell wie möglich, den Pannendienst rufen und dich nicht so lange allein lassen wollte. Ich habe ihnen gesagt, dass du allein im Auto bist.
Auf einem kleinen Tisch über dem Telefon war das Bild eines Mädchens angebracht. Es war Kordula Dierksen. Ich sagte dann den dreien, dass wir dieses Mädchen als Anhalterin mitgenommen hatten, sie gerade noch in unserem Auto gesessen hatte und auf ein Mal verschwunden war. Dabei hatten wir nicht angehalten, um sie aussteigen zu lassen. Die drei schauten sich untereinander und mich ganz lange merkwürdig und verstört an.
Dann brach es aus der Frau heraus: 'Das ist unsere Tochter Kordula. Wir heißen Dierksen und Kordula ging damals noch zur Schule. Nach der Schule kam sie nicht immer gleich nach Hause, sie wollte bei einer Schulkameradin bleiben. Sie trampte immer, sie hatte keine Angst. Unsere Warnungen, dass das Trampen für ein einzelnes Mädchen gefährlich sei, schlug sie in den Wind. Wir leben doch so abseits. Wir haben ihr immer gesagt, sie soll doch zu Hause anrufen, damit wir sie abholen kommen. Sie wisse sich schon zu wehren, lachte sie. Heute vor einem Jahr stand sie wieder an der von Ihnen genannten Straße und ist dabei an einen Verbrecher geraten, der sie zuerst vergewaltigt und dann erdrosselt hat, damit sie ihn nicht mehr bei der Polizei anzeigen konnte. Man hat sie erst nach drei Tagen gefunden. Können Sie sich vorstellen, was während dieser drei Tage und nachdem man sie gefunden hat, in uns vorgegangen ist? Das Verbrechen an unserer Tochter wurde nie aufgeklärt, der Täter nie gefunden. Sie sind schon die vierte Person, die zu uns kommt und uns erzählt, sie habe unsere Tochter an der Straße stehen sehen und mitgenommen und immer sei sie aus dem fahrenden Auto heraus verschwunden.'
Schließlich telefonierte Herr Dierksen noch mit einer Werkstatt. Ich bin über diese Geschichte so erschrocken, dass ich mich nicht ein Mal für ihre Hilfe bedanken konnte."
"Bist du ganz sicher, dass es dieses Mädchen war?", fragte ich. "Wenn ich doch nur ins Haus gekommen wäre. Dann hätte ich gewiss das Bild von ihr auch gesehen. Mir wurde es immer unheimlicher und du bliebst so lange weg. Ich wollte gerade losgehen, als du wieder aufgetaucht bist."
"Ganz sicher, sie war es!", brachte er hervor.
Mittlerweile kam der Pannendienst und schleppte uns ab. Es war weit nach Mitternacht, als wir endlich zu Hause ankamen. In diese Nacht schliefen wir beide nicht, grübelten und sinnierten, ob so etwas möglich sein konnte.
Am nächsten Morgen, nach Edgars und meinem Dienstschluss an unseren Arbeitsplätzen, beschlossen wir, uns zu informieren und fragten bei der nächsten Polizeistation nach. Unser Entsetzen und Grauen wurde noch größer, als die Polizei uns die Vergewaltigung und Ermordung der jungen Kordula Dierksen bestätigte. Seither stehe sie öfter an der Straße, wahrscheinlich genau an der Stelle, an der sie zu dem Verbrecher ins Auto gestiegen sei, und wir beide seien schon die Vierten, die der Polizei diese Geschichte erzählten.
Hinweise: Dieser Erzählung um eine Anhalterin soll eine wahre Begebenheit zugrunde liegen. Die in dieser Geschichte handelnden Personen und deren Namen wurden frei erfunden. "Die Anhalterin" wurde erstmals 2015 im Kurzgeschichtenband "Kurzgeschichten | Krimis" vom Re Di Roma-Verlag veröffentlicht.
© "Die Anhalterin: Das Bild des Mädchens": Kurzgeschichte in zwei Teilen von Autorin Ulla Schmid, 06/2019. Bildnachweis: Ausgestreckte Hand einer Anhalterin, CC0 (Public Domain Lizenz).
Alle Bücher von Ulla Schmid auf ihrer Autorenseite.
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