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"Erzähl mir doch keine Märchen!" Ja, aber warum denn nicht? Märchen und ihre Verwandten, welche Sage und Legende heißen, sind schließlich gerade dazu da: zum Erzähltwerden. Aus der Schule weiß man noch, dass Sagen immer einen wahren Kern haben, selbst wenn es sich nur um einen real existierenden Ort oder auch ein Gebäude handelt. Bei den Legenden ist es ähnlich, es geht um eine Art ausgeschmückte Geschichte, deren Helden entweder tatsächlich gelebt haben oder aber als Archetyp sprichwörtlich geworden sind. Man denke da vor allem an die Heiligenlegenden.
Das Märchen nun gilt als reine Erfindung, eine Erzählung mit großem Unterhaltungs- oder gar Erziehungswert. Märchen rufen mehr als ein angenehmes Gruseln hervor, es geht oft richtig zur Sache. Da werden Leute gebraten, gepfählt, zerstückelt oder mit üblen Zaubern belegt. Menschen verlieren ihre Angehörigen und finden sie erst nach gefährlichen Abenteuern wieder, und Liebespaare gehen gleich durch mehrere Höllen, bevor sie sich finden.
Oft treffen diese Grauslichkeiten sogar Kinder, wie zum Beispiel in "Hänsel und Gretel", einem der beliebtesten Volksmärchen. Das Geschwisterpaar wird im dunklen Wald ausgesetzt. Dann gehen sie einer gerissenen Betrügerin in die Falle, die sich dann sogar als Menschenfresserin outet und den kleinen Jungen sofort auf die Speisekarte setzt. Das Mädchen muss Magddienste leisten vorerst – aber die Kinder sind gewitzt und die unheimliche Alte landet selber auf dem Bratrost. Eine poetische Fantasy-Geschichte ist das nun nicht gerade, aber sie erfüllt durchaus ihren eigentlichen Zweck – den des Lehrens.
Die alten Geschichten wimmeln nur so von Archetypen, es gibt die weise Alte und die böse Stiefmutter, die stellvertretend für die dunkle Seite der Magie steht. Die hilfreichen Naturgeister wenden oftmals noch schnell das Blatt für die Hauptperson oder es gilt einen bösen Hexer zu besiegen. Das oftmals mit Hilfe des gütigen und weisen Alten ... das Schema bleibt sich im Großen und Ganzen gleich.
Fast immer spielt Zauberei eine Rolle, in Form von verwunschenen Dingen oder verzauberten Menschen. Die Symbole sind meist tiefgründiger und älter, als sie auf den ersten Blick scheinen. Sie reichen weit zurück in die frühe Zeit des Menschen und werden nicht von der Logik erkannt, sondern anders "gelesen". Sie sind uns vertraut, ohne dass wir es wissen.
Es gab eine Zeit in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in der viele Psychologen und Pädagogen sich gegen die Märchen aussprachen, weil sie zu brutal seien. Und das ist durchaus so, das oben genannte ist ein gutes Beispiel dafür. Nur ... der beschriebene Schrecken ist wichtig, er ängstigt zwar erst einmal, aber dann hat er ein Ende – denn Märchen gehen immer gut aus. Am Ende werden die Guten belohnt und die Bösen bestraft ... es handelt sich tatsächlich um eine Art positiven Stress.
Wie viele Kinder kennen Schneewittchen auswendig, wollen es aber immer und immer wieder hören – es ist wie eine Art Versicherung, die sie brauchen. Nämlich die, dass das "Gute" gewinnt. Wir Erwachsenen kennen das auch, spätestens seit J. R. R. Tolkien sein Epos "Der Herr der Ringe" schrieb, boomte die Fantasy-Literatur. Und worum geht es in diesen ganzen Geschichten oder auch Filmen? Es geht um den uralten Kampf von Gut und Böse. Wir lieben es einfach. Aber man muss nicht einmal das Genre bemühen, denn moderne Märchen wie "Dallas" oder ähnliche Marathon-Serien waren nichts anderes als die alten Geschichten. Man zitterte mit dem sympathischen Held und wünschte sich, dass die gemeine Intrigantin endlich einmal auf die Nase fallen sollte.
Ob nun ein Ritter in strahlender Rüstung herbeigaloppiert kam, oder ob es sich um einen gestandenen Cowboy mit schiefem Grinsen handelte – Hauptsache, ein Held tauchte auf und brachte alles in Ordnung. Zorro oder das A-Team – in welcher Kleidung die Retter kommen – ob sie nun Tuniken oder Jeans tragen – ist völlig gleichgültig. Es geht wie immer darum, dass die netten Jungs gewinnen und die fiesen eins auf die Mütze kriegen. Etwas in uns will das einfach sehen, ob wir nun Kinder sind oder schon im Rentenalter. Und je nach Geschmack sucht der eine das bei den Geschichten um König Artus oder den Hobbits und Elfen – der andere bei knallharten Polizisten in ständig ramponierten Autos.
Die eigentliche Bedeutung des Wortes "Märchen" ist ja "Kunde" oder "Nachricht". Das Wort "Maere" kommt aus dem Mittelhochdeutschen und kann auch die Übermittlung einer tatsächlichen Nachricht bedeuten. Im Lauf der Zeit wandelte sich die Bedeutung zu derjenigen, welche wir kennen. Tatsächlich bringen sie uns ja auch Nachrichten, die Märchen. Sie erzählen uns von sehr wichtigen Dingen, die jenseits des Alltags liegen, weit weg von Bits und Bytes und anderen Dingen, die das "reale Leben" ausmachen.
Wovon diese Geschichten handeln, liegt in einem von manchen Menschen vergessenen Land, nämlich in der Welt, die in unserem Innern liegt. Dort befindet sich das viel zitierte "innere Kind" mitsamt einem großen Stück unseres Lebens. Diese märchenhafte Welt mit ihrem ganzen Zauber ist immer lebendig, auch wenn die Zugänge längst verschüttet sind. Doch es gibt da so etwas wie ein Rohrpostsystem, das ab und zu die eine oder andere Botschaft überbringen kann: die Märchen eben oder die Fantasy-Geschichten, es spielt nicht wirklich eine Rolle.
Und auch wenn wir wissen, dass der reale Richard Löwenherz ein anderer Mensch war als der aus der "Robin Hood Legende" und König Artus nicht in der Form existiert hat, wie wir ihn lieben – was schert es uns. Wir brauchen diese Träume und sie gehören uns allein. In diesem Sinne also: "Hättest du nicht Lust, mir ein Märchen zu erzählen?"
Lesen Sie mehr hier: Deutsche Sagen und Legenden sowie Mythologie und Fantasy
© "Erzähl mir doch keine Märchen!": Textbeitrag und Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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