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Wir blicken in die Medien und denken: Es ist wieder einmal soweit. Frauen und Kinder werden nicht mehr sicher sein auf unseren Straßen.
Dabei erinnern wir uns an die Angehörigen des hebräischen Volkes, die einst die Prügelknaben waren, sofern sie sich auf den Straßen sehen ließen. Durch die Geschichte hindurch zogen sich Pogrome gegen die Kinder Israels, seit sie ihr Land verließen und fürderhin auf der ganzen Welt ansässig wurden.
Wo immer ein Brunnen unbrauchbar wurde oder die Schulden der Christen zu hoch, wurde zur Hatz auf die "Feinde Gottes" geblasen und ganze Stadtviertel wurden abgefackelt. Man kannte das schon von den Schtetln des Ostens und in den Gassen der südlichen Länder. Dann zog man den Kopf ein, bis es wieder einmal vorüber war. Gründe gab es von Seiten der Kirche keine, außer, dass sie den Juden irgendetwas Ketzerisches vorwarf, was sonderbar anmutet, denn es handelt sich wohl um den gleichen Gott. Es hatte allerdings Streitigkeiten um die Identität eines gewissen Jeshua, seines Zeichens Zimmermann aus Nazareth gegeben, aber wo gibt es keine Probleme mit der lieben Verwandtschaft.
Die Rechte der jüdischen Bürger wurden in manchen Ländern dermaßen gekürzt, dass sie praktisch als Vogelfreie in den Städten lebten, und ein umfassendes Berufsverbot hinderte die Juden meist an der Ausübung anderer Berufe als dem Verleihwesen und dem An- und Verkauf. Dergestalt in die Enge getrieben, nahmen die Betroffenen den passiven Kampf auf und machten die wenigen Sachen, die sie machen durften, sehr gut. Das wurde ihnen dann auch prompt wieder in Rechnung gestellt, und der Mythos vom verschlagenen, betrügerischen und raffgierigen Geldjuden entstand.
Die Abneigung war eine Angelegenheit, die den Glauben betraf. War ein Jude zum Christentum konvertiert, hatte es damit meist ein Ende, bis auf gewisse Restbestände. Ein Hebräer konnte also ein Jude sein, musste aber nicht. Er konnte auch Christ sein. Man übersetze sich das Wort Jude mit "Katholik" oder "Buddhist", dann weiß man ungefähr, worauf es ankommt.
Glaubenskriege gab es in der Geschichte immer irgendwo, jedenfalls seit die auf Menschenliebe setzende Kirche etwas zu sagen hatte. Vorher war man toleranter. Irgendwann hatten dann einige fehlgeleitete Ignoranten jeglichen biologischen Wissens die zündende Idee. Man war aufgeklärt und die Sache mit dem ermordeten Christus zog nicht mehr bei den Menschen, also musste ein neuer Grund her. Der war dann in der "Rasse" schnell gefunden. Wo die Juden vorher nur ihres Glaubens wegen verfolgt waren, ging es jetzt um ihr Volk, ihre ethnische Zugehörigkeit. Das war ein "genialer" Einfall, den man den bornierten neuen Akademikern und Agitatoren nicht zugetraut hätte, denn vor Intelligenz strotzten sie ja nun nicht.
Aber sie erreichten mühelos, dass sich jetzt niemand mehr herausreden konnte, denn man kann ja sein Blut nicht austauschen. Wie das ausging, weiß man. Man darf das allerdings nicht ohne weiteres sagen. Die Konzentrationslager sind ein heikles Thema, das fast mit einem Tabu belegt ist. Und immer wieder hört man, wie viele Juden dort zu Tode kamen. Das ist völlig richtig, aber es waren vor allem Menschen, die in die Gaskammern getrieben wurden, die man erschlug oder zur Zerstreuung mal eben anlässlich einer kleinen Schießübung abknallte. Es waren Menschen, die in den Steinbrüchen verschlissen wurden als Billigstarbeiter, die kaum den viertel Napf Wassersuppe kosteten und die man nach ihrem Tode verwertete, wie man es mit Schlachtvieh tut.
In den Lagern starben Menschen aus allen europäischen Ländern, allen Konfessionen. Sie starben, weil es jemandem so passte. Wie viele Priester, die sich nicht beugen wollten, gingen in den Tod? Wie viele Schriftsteller und Künstler, wie viele Homosexuelle, Gewerkschaftsleute und politisch Andersdenkende wurden zu Tode geschunden? So mancher kam in ein Lager, weil seine Arbeitsmoral etwas unterentwickelt war oder weil er etwas besaß, das der Nachbar gerne gehabt hätte, und dieser hatte in der örtlichen Partei etwas zu sagen. Man kennt das. Solche "Fälle" kamen manchmal nach Monaten wieder frei, aber sie starben an den Folgen ihres Aufenthaltes.
KZ-Opfer, das waren potenziell alle in einem Land, das von Willkür und Dummheit regiert wurde. Im Dritten Reich wurden Millionen von Juden ermordet. Aber noch viel mehr Menschen. Solche, die in ihrer Angst und Verzweiflung Selbstmord begingen. Viele andere, die in einem verbrecherischen Krieg an der Front in Stücke geschossen wurden, verhungerten, erfroren oder gar vor ein Kriegsgericht kamen, weil sie sich der Maschinerie verweigerten oder nur weglaufen wollten. Die Kinder in allen Ländern, die an Masern starben oder ähnlichen Krankheiten, weil sie völlig unterernährt waren, und denen das Nötigste fehlte, weil alles Einsetzbare für eine gewaltige Todesorgie gebraucht wurde. Ob Deutsche, Polen, Russen, Ungarn, Tschechen oder Franzosen, niemand blieb verschont in Europa. Das alles sind Opfer des Nationalsozialismus.
Sieht man die ungeheuerlichen Zahlen, dann möchte man schreien und nicht mehr aufhören, denn EIN einziger Gewehrkolben im Gesicht eines Menschen ist eine Ungeheuerlichkeit. EIN einziger Tritt. EIN einziger Schlag. EIN einziger gewaltsamer Tod ist ein unsägliches Verbrechen. Wer anlegt für den Genickschuss auf einen halbverhungerten Menschen, der vor seiner eigenen Todesgrube steht, moderat zur Aufwandsvermeidung – wer dazu fähig ist, braucht keine Gründe. Der Spaß an der Sache wird ihm Anlass genug sein. Warum er sich dieses Vergnügen leisten kann, ist ihm in letzter Konsequenz absolut gleichgültig.
Ob es Juden sind oder Protestanten, Einheimische oder Fremde, Rothaarige oder Blauäugige, es ist nicht von Belang. Es sind immer Menschen. Man muss endlich erkennen, dass es zwischen dem Soldaten, der wehrlose Menschen lachend exekutiert, und dem Schläger, der sich kaum die Mühe macht, einen noch so fadenscheinigen Grund zu suchen und ungehemmt jemanden zum Krüppel schlägt, keinen Unterschied gibt.
Dachau, das ist an jeder Straßenecke, wenn wir es zulassen.
© "Menschen und ihre Glaubenskriege": Textbeitrag und Abbildung von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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