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(Dezember 2010) Über das "Wort des Jahres 2010" regt sich (fast) jeder auf – und das aus verschiedenen Gründen. Erstens einmal machte eine Wortkreation das Rennen, von der eigentlich niemand vorher etwas gehört hatte. Es handelt sich, wie man also denken könnte, um ein bloßes Konstrukt. Selbiges nun trägt den Namen "Wutbürger" und zieht in den Köpfen an ganz verschiedenen Nervensträngen.
Unbedarfte Leser, denen die schöne Tradition des jährlichen Nonsens-Oscars für die sonderbarste Bezeichnung nicht ganz so wichtig sind, reagieren auf das plötzlich ins Auge springende neue Unwort sofort mit allerlei interessanten Assoziationen. Wutbürger ... könnte man meinen, bezeichnet deutsche Bürger, die langsam die Faxen dicke haben und so etwas wie Zorn über die herrschenden Zustände verspüren. Also eher "Atomkraft? Nein danke" – ... aber darauf läuft es nicht hinaus.
Der Wutbürger ist – nach seinem Schöpfer Dirk Kurbjuweit, seines Zeichens "Spiegel"-Redakteur – ein ganz anderer. So einer nämlich, der es zu etwas gebracht hat im Leben, inklusive herzeigbares Auto, das mit Sicherheit nie gebraucht ist, und eine gediegene Einrichtung im Eigenheim besitzt. Wahrscheinlich hat er einen "Ein Herz für Kinder"-Button auf der Stoßstange und auf dem Postkasten einen "Werbung verboten"-Aufkleber. Jeans kennt er, trägt sie aber höchstens zur Gartenarbeit, falls er die selber erledigen sollte.
Der Wutbürger weiß genau, wie sein Lieblingsverein (den er mit Geld unterstützt) hätte spielen müssen, um zu gewinnen, und er weiß auch genau, was die Politiker falsch machen. Sie sehen das Leben nicht durchaus wie er und das verträgt er schlecht. Es geht ihm sehr um sein Ansehen in der Welt – also vor allem in der Lokalarena – und seine Leichen pflegt er still im Keller, in dem sie in großer Zahl herumliegen.
Unter der Fassade hochanständigen Bürgertums geht es zu wie weiland in Sodom und Gomorrha, und keine Klüngelei ist dem Wutbürger fremd. Seine Kinder schädigt er auf Jahre hinaus und macht sie therapiebedürftig, denn wer die Füße unter seinen Tisch streckt, tut das bitteschön in derselben devoten Haltung, wie er das schon tun musste in seiner Jugend. Und das hat ihm, bitteschön, nicht geschadet.
Jovial und schulterschlagend zeigt er seine Verdienste, entweder als Urkunde in auf alt getrimmten Holzrahmen oder auch gern dreidimensional in Form von glänzenden Pokalen. Er findet "hartes Durchgreifen" gut, vor allem wenn es um andere Spezies geht als die, der er selber angehört. Denn Arbeitslose, Ausländer, Obdachlose und vor allem Kriminelle (Menschen, die anders leben als er selber), sieht er nicht als verwandte Lebewesen, sondern als ständige Bedrohung seiner Sicherheit und seiner Privilegien. Für die hat er nämlich gearbeitet und sich krumm gelegt. Das betont er immer und immer wieder, am Stammtisch oder in seiner Firma, in seinen Vereinen und bei den Parteiabenden.
Tolerant ist er auch, das vergisst er niemals hinzuzufügen ... aber wenn ihn etwas wütend machen kann, dann ... dann folgt meist eine recht lange Litanei und der Wutbürger gerät in bedenkliche Nähe eines Herzinfarktes. Er versteigt sich zu Hasstiraden gegen ... nun gegen alles, was antipodisch ist und vor allem, was er nicht unbedingt direkt überschauen kann (also den Bezug zu sich und seinem Vorteil nicht ohne weiteres herstellen kann) und nach Neuerung aussieht.
Was hier beschrieben wurde und mit diesem brandneuen Wort etikettiert wird, ist – so muss man argwöhnen – nichts anderes als der gute alte Spießbürger, wie er leibt und lebt. So kennen wir ihn, und so beklagen wir, dass er nicht ausgestorben ist seit langer Zeit. Warum der Gute nun plötzlich anders heißen sollte, ist nicht so leicht zu verstehen, auch wenn die alte Bezeichnung nicht unbedingt vom Zeitgeist berührt sein sollte ... von der Wortbedeutung her ist sie durchaus passend.
Das Problem daran ist allerdings nicht der neue Name für etwas Altes – darüber regen wir uns nicht auf, denn wir müssen stündlich unseren Sprachschatz entrümpeln in diesen Zeiten – sondern der Versuch einer Konstruktion, die uns gewissermaßen nachträglich in den Mund geschoben wurde – schließlich sollte das Wort des Jahres eines sein, das "in aller Munde" war, bevor man es zu dem gemacht hat, was es nun sein soll. Haben wir vielleicht irgendetwas verpasst, Herr Kurbjuweit?
© "Wutspiegeleien – Neue Worte und alte Kamellen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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