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Parteien, Organisationen und auch manch Einzelner zerbricht sich den Kopf und redet sich das Herz heiß, wie man unser System verbessern könne, wie man zu mehr Gerechtigkeit käme, was Demokratie ist – und wie man den Vielen helfen kann, die an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden (mal abgesehen davon, dass man anteilsmäßig eigentlich nicht mehr von "Rand" reden kann?.).
Dabei wäre es so einfach. Wir haben ein Grundgesetz, in dem alle notwendigen Voraussetzungen für all diese berechtigten Forderungen festgeschrieben sind.
Ein kurzes Zitat aus der Einleitung der Reclam Ausgabe des Grundgesetzes:
An dieser Stelle eine Bitte:
Lesen Sie das Zitat noch mal.
Vielleicht sogar noch ein weiteres Mal.
Haben Sie das Gefühl, dass hier von "unserer" gelebten Verfassung die Rede ist, erkennen Sie in diesen Worten unser derzeitiges System wieder und haben Sie das Gefühl, dass alles so zutrifft?
Wenn ja, dann sollten Sie nicht weiterlesen, sondern lieber eine Bildzeitung am Kiosk kaufen.
Wenn nicht, sollten Sie weiterlesen.
Leider handelt mittlerweile von denjenigen, die "das System" repräsentieren und "vertreten" (sollten) kaum noch einer wirklich danach, oder gibt es jemanden, der ernsthaft behaupten möchte (und belegen kann ...) dass unser heutiges System den "Willen der jeweiligen Mehrheit" vertritt und die Grundlage "Freiheit und Gleichheit" ist?
In einem Artikel von Stefan Hradil (2006): Soziale Milieus – Eine praxisorientierte Forschungsperspektive (In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44-45, S. 3-17) heißt es:
Und wo stehen wir heute? Genau dort, wo "vier Fünftel der Bevölkerung" nie hinwollten: Demokratie?
Und wie viele der großen Mehrheit, die im besten Fall trotzdem (noch) ganz gut klar kommen, im schlimmsten Fall ihrer Grundrechte beraubt ums Überleben kämpfen müssen, kennen denn diese Grundrechte überhaupt?
Es mag provokant klingen, aber ich behaupte: Kaum einer! Denn sonst wäre es nicht möglich, ein System, in dem Grundrechte ignoriert und teilweise mit Füßen getreten werden, so lange in dieser Form am Leben zu erhalten.
Und wissen Sie was das Schlimmste ist? Im Gegensatz zu Diktaturen und repressiven Gewaltregimes geschieht das nicht durch Zwang, sondern mit stillschweigender Akzeptanz derjenigen, welche die Leidtragenden sind.
Wie konnte aus einer Gesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wirtschaftswunder vollbracht hat, wo jeder sicher war, dazu beizutragen, dass es den eigenen Kindern und Kindeskindern immer besser gehen würde, eine Gesellschaft von ängstlichen, resignierten und hoffnungslosen, in einer parlamentarischen Demokratie "vertretenen Bürgern" werden? Bürger, die ihr eigenes Schicksal, das ihrer Kinder und ihre individuellen Rechte aus der Hand gegeben haben? Die sich sogar noch einreden lassen, dass sie selber daran schuld seien, wenn sie heute von ihrer Arbeit nicht mehr leben können oder im Alter von Armut bedroht sind?
Wie konnte aus der breiten Einstellung der sozial schwächer Gestellten "mein Kind soll es besser haben und weiter bringen" die Einstellung werden "Wozu höhere Schule, 'unsereins' kommt doch aus der Hartz IV Falle sowieso nicht raus"?
Die Antwort ist recht einfach: Im Zuge der Industrialisierung kam es im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte zu einem generellen Anstieg des Lebensstandards. Während diese Entwicklung aber zunächst langsam verlief und auch durch Kriege und Wirtschaftskrisen immer wieder verlangsamt oder gestoppt wurde, kam es dann nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem rasanten Anstieg des allgemeinen Lebensstandards, der angestrebt und schließlich immer mehr als selbstverständlich betrachtet wurde – gestützt durch Medien, Konsumgesellschaft und sich ändernde Werte. Einkommen und Vermögen vermehrten sich geradezu explosiv.
Während es im Zuge der Industrialisierung und durch die Verschiebung vom Agrarsektor hin zum Industriesektor, zu einer "Verstädterung" kam, veränderten sich auch die Erwartungshaltung und die Ansprüche. Kinder bekamen in den 70er Jahren vermehrt die echte Chance, bessere Bildungsabschlüsse als die vorherige Generation zu erwerben und so sozial aufzusteigen.
Das wiederum wäre eine echte Chance gewesen: Wenn auch die Definition von Arbeit einen ähnlichen (sinnvollen) Weg genommen hätte – weg von der Vorstellung "des sicheren Arbeitsplatzes" hin zu einer neuen Wertung von Tätigkeiten in Bereichen, die neu entstanden: Dort, wo diese früher im Rahmen von Großfamilie und Familienbetrieben quasi "nebenbei" erledigt wurden.
Kinderbetreuung, Pflege, Suchthilfe und -beratung, soziales Engagement: All dies sind Bereiche, in denen immer noch vor allem privates und ehrenamtliches (also nicht bezahltes, nicht wertgeschätztes) Engagement vorherrscht und vorausgesetzt wird. Wenn diese Bereiche in öffentliche Arbeitsplätze umgesetzt würden, dann hätte sich die Entwertung von Bildungsabschlüssen mit einem Schlag erledigt!
Denn nirgendwo sind hohe soziale Kompetenz, Offenheit, Information und eine ständige Bereitschaft zum Lernen so unabdinglich wie in der Betreuung und Beratung von Menschen jeden Alters. Alles Kompetenzen, die sich aber nur entwickeln können, wenn auch Bildungsstandards gewährleistet sind.
Gleichzeitig gäbe es dann auch keinen sinnvollen Grund mehr dafür, "Arbeitsplätze" im Niedrig(st)lohn-Sektor, die keine oder wenig Allgemeinbildung und (auch soziale) Kompetenz voraussetzen, auf Teufel komm raus erhalten zu müssen.
Leider ist diese Neudefinition von Arbeit und Erwerbstätigkeit bis heute nicht erfolgt.
Ein Studienbrief der Fernuniversität Hagen (Dittrich "Wie sozial ist Europa" S.92f) bringt diesen Sachverhalt sehr klar auf den Punkt, indem von einem "kollektiven Gedächtnis" der Gesellschaft – also der Menschen – gesprochen wird: Hinsichtlich Arbeitsformen, Arbeitsbeziehung und Arbeitsverständnis. Ein Gedächtnis, das dadurch entstanden sei, dass die Industrialisierung (zunächst) zu einer erheblichen Wohlfahrtssteigerung geführt hat. Mit diesem Anspruch "wurde ein großer Teil der Bevölkerung [...] geradezu zwangssozialisiert, galt [industrielle] Arbeit zu haben als Pflicht, um Geld zu verdienen".
Während der Produktionssektor Industrie im Laufe der letzten Jahrzehnte aber immer mehr Bedeutung an den Dienstleistungsbereich verlor, konnte das kollektive Selbstverständnis der Gesellschaft und das Individuelle der Menschen hier nicht Schritt halten.
Im Zuge der Veränderung hin zur Dienstleistungsgesellschaft war es zu einer "Entwertung" der Bildungsabschlüsse gekommen. Eine gute Schulbildung wurde immer wichtiger, garantierte aber schon lange keine Karriere mehr, da inzwischen die "Konkurrenz" größer geworden war.
Bildung hatte in vielen Köpfen während der Phase des Wirtschaftswachstums die Bedeutung von "Einkaufsgutscheinen" besessen – nun wurden die auf einmal nicht mehr problemlos eingelöst ... oder noch plastischer: Man bekam kein All-Inclusive-Paket mehr, sondern nur noch den Eintritt in den Club.
Nicht zuletzt wird dieser Wertverlust von Bildung auch daran deutlich, dass der Wirtschaftsboom zwischen 1948 und 1973 die Periode der Entstehung des Massenkonsums war. Fast jeder Haushalt konnte sich in dieser Zeit erstmals Fernseher, Telefone, Waschmaschinen, Autos, Urlaub etc. leisten – Dinge die heute nicht mehr als Fortschritt, den man sich erarbeitet hat, gewürdigt werden, sondern Selbstverständlichkeiten sind, ohne die man vom "normalen" gesellschaftlichen und sozialen Leben ausgegrenzt ist. Eben diese Selbstverständlichkeit und der damit auch verbundene Wertschätzungsverlust führen aber auch dazu, dass sie als Motivationsfaktor für Aufstieg durch Bildung nicht mehr funktionieren können.
Deshalb ist die logische und geradezu zwangsläufige Konsequenz, dass die Bereitschaft und Motivation, Kinder zum Lernen zu ermutigen, oder sich gar selber "allgemein" weiterzubilden oder Schulabschlüsse nachzuholen, nicht nur katastrophal benachteiligt (im Sinne von fehlender Unterstützung sowohl finanzieller wie auch wertschätzender Art) sondern auch – verständlicherweise – immer weniger vorhanden ist. Ein Teufelskreis, der erst durchbrochen wird, wenn Menschen sich wieder ihrer politischen Rechte und Pflichten bewußt werden. Wenn sie nicht mehr resignieren, sondern sich aktiv und engagiert für eine neue Definition von Arbeit einsetzen. Wenn sie sich nicht mehr passiv "vertreten lassen", sondern aktiv eintreten für das, was uns allen verfassungsgemäß zusteht: "Eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit".
© "Weshalb es ohne politische Bildung nie eine Bildungsrepublik geben kann": Textbeitrag von Sabine Siemsen. Bildnachweis: Buch mit Brille, CC0 (Public Domain Lizenz).
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