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Früher ging man zum Maskenball und ließ das Alter Ego einmal für eine kurze Zeit so richtig Gassi. Biedere Ehemänner, denen sonst ein Bücherkarton zu schwer war, trugen in schneidiger Manier Zorros Maske, ihre weiblichen Gegenstücke legten eine unwiderstehliche Verruchtheit an den Tag. Cleopatra umgab sich an der Sektbar des Karnevalvereines mit Piraten, Cowboys und anderen Markigkeiten, während der sonst leicht verschlafene Gatte mit Can-Can-Tänzerinnen und Hexen schwungvolle Tangos auf das Parkett legte. Und am Aschermittwoch war man dann wieder Herr Schulze und Frau Meier – und blieb das auch die meiste Zeit des Jahres.
Seitdem das Internet die altdeutschen Wohnzimmer miteinander vernetzt, feiert das Maskieren fröhliche Urständ und ist keineswegs mehr saisongebunden. Je nach Modeströmung – oder psychologischem Problem – trifft man beim Eintritt in den riesigen Ballsaal der Monde de Camouflage – also dem Internet – auf die erstaunlichsten Persönlichkeiten. Unzählige Karikaturen zeigen den schmächtigen, zurückhaltend behaarten Typen mit dicker Brille, der vor dem PC sitzt und unter dem Namen "Bonebreaker" – oder sonst etwas hochvirilem – den Womanizer spielt. Das ist zwar lustig, aber auch eine Tatsache – schließlich misst niemand im Chat den Oberarmumfang.
Im Allgemeinen gesteht man den Frauen mehr Phantasie zu als den Männern – ob nun zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt – aber die Damenwelt zeigt sich online doch bunter. Da gibt es tausende von Mäuschen in ungeahnten Variationen – von der "Bussimaus" bis hin zum "Süßen Mäuschen". Womöglich handelt es sich bei einem Teil dieser Mäuse um dieselben Damen, die in Schreikrämpfe verfallen, wenn solch ein putziger kleiner Nager im realen Leben auftaucht. Warum Frauen glauben, dass männliche Wesen sofort den Nestbautrieb aktivieren, wenn ein kleines Pelztierchen mit Knopfaugen auftaucht, ist noch nicht erforscht, aber es soll womöglich den Beschützerinstinkt wecken.
Weitere beliebte Namen stammen aus der Welt des Übersinnlichen. Nirgendwo auf der ganzen Welt, nicht einmal in den Büchern Tolkiens, trifft man auf so viele Elfen und Feen wie in den verschiedenen Communitys – sie treten sich dort geradezu auf die zerbrechlichen Füßchen. Engel sind allgemein beliebt, und seit der Lebensstil des Gothic von der breiten Masse wahrgenommen wurde, haben die Engel die Farbe gewechselt. Von "schwarz" bis "blutig" ... Engel geht immer. Gleich danach bilden die vielen "Dark Ladys" eine große Gemeinschaft und präsentieren sich meist mit irgendeinem frei heruntergeladenem Avatarbild. Die Psychologie geht davon aus, dass sich jeder das Kostüm sucht, das eine unausgelebte Seite – oder aber das genaue Gegenteil – der Realität symbolisiert.
Was hinter den falschen Muskelmann-Avataren steckt, wissen wir mit einiger Sicherheit – aber verbergen sich hinter den "Dunklen Damen" der Netzwerke etwa ältere Damen mit großgeblümten Kittelschürzen? Selbstlose Krankenschwestern mit blondem Kurzhaarschnitt? Liebevolle Mütter, die nächtelang an den Betten ihrer erkälteten Kinder sitzen und nebenbei noch die Frühstückseier für die Ehemänner kochen? Das also käme dabei heraus, wenn wir das genaue Gegenteil annehmen. Wenn dem tatsächlich so ist, möchte man lieber nicht wissen, wofür das "Herzige Mäuschen" in Wirklichkeit steht. Wahrscheinlich passt es dann eher in die Riege der Großkatzen.
Es gibt kein Thema, über das man nicht in irgendeinem Diskussionsforum lesen kann ... und vor allem auch mitdiskutieren. Und jeder kann dann lesen, was "Besserwisserchen", "Radikarl" oder sonst ein Freigeist dazu zu sagen hat. Besonders intensiv erlebt man das bei den Onlineartikeln der Presse – von fünf Kommentaren werden zwei gelöscht mit Rücksicht auf die Leser. Wer anonym ist, kann sich fast alles erlauben und legt nicht unbedingt Wert auf konstruktive Diskussionen, sondern möchte vielleicht auch ein wenig stänkern – schließlich kann einem ja nichts passieren. Zwar verlangen viele Plattformen einen so genannten "Klarnamen" und ein Bild, auf dem der "Gast" tatsächlich zu erkennen ist – aber niemand prüft das mehr nach. So dauert es jedes Mal eine Weile, bis ein solcher Visierträger abgemahnt oder auch sein Account gelöscht wird.
Und hier wollte der Vorsitzende der Internet-Enquete des Bundestags, Axel Fischer, zur Rettung der Qualität ansetzen. Er forderte, dass nur noch die echten Namen verwendet werden dürfen. Der Sturm der Entrüstung wehte Fischer mit ziemlicher Gewalt um die Ohren, sein Vorschlag war für jede Menge Späße gut. Von "Vermummungsverbot" im Internet war da die Rede und vieles andere mehr. Übertrüge man die Forderungen Fischers auf das reale Leben, so hieß es, dann müsste jeder in der Kneipe ein Namensschildchen tragen. Das ist allerdings nicht unbedingt ein Argument, denn dort ist man schließlich wirklich und wahrhaftig anwesend. Man erscheint nicht als Avatarbildchen, sondern wird in voller Realität wahrgenommen.
Gerade da zeigt sich der gravierende Unterschied – man muss aus den Gegebenheiten das Beste machen ... soll heißen, sich auf die soziale Interaktion einlassen – mit allem was dazugehört. Das bedeutet, man muss fertigbringen, sich völlig real auf reale Menschen einzulassen und mit ihnen zu interagieren. Der Nachbar an der Theke ist so zu sehen wie er ist und nicht hinter einem lebensgroßen Bild von Spiderman versteckt – das gilt auch für die Dame daneben, die zwar nett aussieht, aber keine bleiche Vampirin mit einem dünnen Blutrinnsal im Mundwinkel ist (auch wenn sie irgendwo als "Blutdämonin" registriert ist).
Wer diese beiden Ebenen miteinander vergleicht, zeigt damit, dass er die Grenze dazwischen wohl schon leicht verschwommen wahrnimmt. Trotzdem ist die Forderung des Herrn Fischer leicht übertrieben, wenn sie auch nicht völlig unlogisch erscheint. Und was die Bluthexen, Honigratten, Knuddelbärlis und Werwolferles angeht – bei diesem ultimativen Fasching ist der Kehraus schon längst abgeschafft.
© "Speedy Devil trifft Zuckermausi – Pseudonyme im Internet: Sinn oder Unsinn": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Weibliche Zwillinge, CC0 (Public Domain Lizenz).
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