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Vier der Kelche
Wie bei allen kleinen Arkanen des Rider-Waite-Tarot sieht man auf den ersten Blick, was gemeint ist bei der bildhaften Darstellung. Ein junger Mann in der Haltung eines trotzigen Kindes sitzt im Schneidersitz vor einem Baum. Vor ihm auf dem Boden sind drei Kelche aufgebaut, und ein vierter wird ihm – von einer Hand, die aus einer kleinen Wolke hervorkommt – gereicht.
Das beeindruckt den Mann überhaupt nicht, er sieht verstockt auf die Erde. Er nimmt dieses Geschenk, diese Chance, überhaupt nicht wahr. So wie er auch schon die drei anderen nicht wahrgenommen oder angenommen hat. Die Körperhaltung ist in jeder Hinsicht "verschränkt", sie bildet mit Armen und sogar mit den Beinen Schranken. Da kommt wahrscheinlich kein Impuls, keine Vision oder auch nur leichter Anreiz durch.
Der Junge will keine Geschenke, keine Gaben, keine Chancen. Die Frage nach dem Warum ist so leicht nicht zu beantworten – es kann sich um den Überdruss handeln, der aus der Langeweile entsteht, und den Blick für das Leben trübt.
Langeweile entsteht meist bei Desinteresse an allem, das nicht die eigene Person betrifft. Wer die Augen offen hält und die Dinge um sich herum wahrnimmt, kommt sehr viel weniger in die Gefahr, etwas "fad" zu finden. Der Mann auf der Karte verschließt sich einfach, er macht keineswegs eine Reise in sein Inneres, um seinen Horizont zu erweitern oder neue Klarheit zu gewinnen. Er tut schlicht und ergreifend ... nichts.
Er ist einer der Menschen, die jeden Tag ihres Lebens über ihr Los klagen, über die Kälte der Menschen und die Ungerechtigkeit des Lebens. Ihr eigenes Lamentieren benebelt alle Sinne. Sie erkennen weder eine gereichte Hand noch eine Gelegenheit zur positiven Veränderung. Eine solche wird nach längerem Verharren in diesem Zustand auch nicht mehr wirklich erwünscht, denn man hat sich mittlerweile aus all dem Jammern und Klagen ein Weltbild zurechtgeschustert, das wie ein bequemes Nest das eigentliche Leben außen vor hält.
Bittere und schmerzvolle Erfahrungen sind sicherlich gute Gründe, um sich erst einmal abwartend oder auch misstrauisch zu verhalten, das ist unbestritten wahr. Hier aber ist etwas anderes gemeint, etwa die Pose eines Kindes, das nicht genau das Spielzeug bekommt, das es erwartet hat, und aus Trotz nun alles zurückweist, das man ihm anbietet. "Dann will ich überhaupt nichts!", ist das Motto eines solchen Kindes. Wird das zur Gewohnheit, finden sich genug Entschuldigungen, um passiv zu bleiben, sich also auch in größter Not nicht einmal nach einer glänzenden Münze zu bücken, im übertragenen Sinn.
Erscheint die Vier der Kelche, dann will sie vor allem auf Chancen hinweisen, auf neue Erfahrungen und Gelegenheiten. Es könnte sein, dass der Fragende sich in seinen Kummer oder seine negative Haltung dergestalt verstrickt hat, dass er tatsächlich vor einem gedeckten Tisch steht und ihn nicht wahrnimmt. Es ist die Aufforderung, aus dem vermeintlich sicheren Schneckenhaus hervorzukommen und die Augen für das Leben zu öffnen.
Es muss also unbedingt etwas verändert werden, und das im Sinne von "aktiv werden". "Du hast dich lange genug zurückgezogen, jetzt musst du wieder teilnehmen, sieh die Gaben, die für dich bereitstehen." Möglicherweise ist auch ein ordentlicher Schubs angebracht, den das Schicksal geben könnte.
Vier der Münzen
Wie bei der Kelch-Vier sehen wir hier einen Menschen, der eine etwas sonderbare Körperhaltung einnimmt, allerdings fast komisch überzogen. Ein reich gekleideter Mann sitzt auf einem steinernen Sitz vor einer Stadt. Auf dem Hut trägt er eine Münze, sie befindet sich auf seinem Haupt und beherrscht sein Denken.
Beide Arme hat er um eine weitere Münze gelegt, gleichsam wie eine sichere Fassung. Er klammert sich geradezu an sie. Und um das Maß voll zu machen, hat er jeden seiner Füße auf eine Münze gesetzt. Dieser Mensch sieht in seinem "Behaltenwollen" geradezu grotesk aus. Zwar kann man ihm nicht entreißen, was er so leidenschaftlich ängstlich festhält, aber dafür ist er zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Er lebt in der Illusion, dass er die optimale Haltung gefunden hat, um seinen Besitz zu schützen, dabei wäre er nicht einmal in der Lage, ein weiteres Kleinod entgegenzunehmen, oder auch nur jemandem die Hand zum Gruß zu reichen.
Kurz und knapp gesagt: Dieser Mann ist von Angst gebeutelt. Er hat vor so vielem Angst – er fürchtet, dass er etwas verlieren könnte – eigentlich ist ihm sogar bange davor, etwas zu bekommen, denn das würde eine Veränderung bedeuten. Und Veränderungen sind etwas, das ihm ganz schrecklich suspekt ist.
Es ist, als wollte der betreffende Mensch jeden Fluss des Lebens blockieren, als wollte er die Zeit anhalten, an die er sich klammert. Und hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Karte. Denn es geht hier natürlich auch um materiellen Geiz, um Pfennigfuchserei und "Behalten wollen" um jeden Preis. Geld vermehrt sich allerdings nicht, wenn der Fluss blockiert ist, wahrscheinlich soll es das auch nicht bei Menschen, die sich so verhalten wie der Mann auf dem Bild.
Aber man kann sich auch an andere Dinge klammern, wie zum Beispiel an Menschen, Gefühle oder Ideen. Mütter, die ihre Kinder nicht gehen lassen wollen, Menschen, die ihre vorgefasste Sicht der Dinge nicht ändern können, oder solche, die fürchterliche Angst vor dem Fluss der Zeit haben und dem damit verbundenen Altern. Wer mit anderen Menschen lebt, erfährt einen ständigen Austausch. Ob es sich nun um Dinge oder um Worte, um Gefühle oder Gespräche handelt.
Der Mann auf der Karte ist von all dem abgeschnitten, er ist einsam – und das gefällt ihm. Jedenfalls redet er sich das ein, denn selbst wenn er wollte, könnte er sich nicht ohne Hilfe aus der Festung befreien, die er aufgebaut hat. Seine Kanäle sind völlig verstopft, er kann sich wohl auch nicht mehr mitteilen.
Die meisten kennen die Figur des Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Scrooge war in seinem düsteren und selbstgerechten Weltbild gefangen, aber sogar er fand zu den Menschen zurück. Es ist immer möglich, die Arme zu öffnen, um wieder lebendig zu sein und Vertrauen zu haben. Das Vertrauen nämlich, dass alles, was man gehen lässt, auch wieder vermehrt zurückkommt.
Soweit ist der Sinn dieser Karte klar, aber es gibt auch eine gegenteilige Botschaft. Zuweilen ist es notwendig, Schleusen zu schließen. Hier kann die Karte zu einer zeitweiligen Sparsamkeit mahnen, dazu sich nicht allzu sehr zu verschwenden, weder im materiellen noch im emotionalen Sinn. Es ist nur wichtig, dass Einschränkungen im Sinne eines Notprogrammes nicht zur Gewohnheit werden.
Der Kontext der umgebenden Karten sowie die Problemstellung zeigen, inwieweit diese Mahnung Thema sein könnte.
* * * Tarot-Karte IV Kelche und Münzen: Ende der Leseprobe aus unserem Buch * * *
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© "Die Karte Vier: Kelche und Münzen": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), Eleonore Radtberger, 2010.
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