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Der Ritter der Kelche
Geradezu in zierlicher und gefälliger Manier schreitet das weiße Ross des Kelchritters vorwärts. Der Ritter auf der Karte des Rider-Waite-Tarot trägt sein Visier weit geöffnet und in der vorgestreckten rechten Hand einen Kelch.
Er ist nicht auf dem Weg zu einem Turnier, sondern er kommt in friedlicher Mission. Er ist das Bild des fahrenden Minnesängers, des galanten Ritters, der sich der Minne ebenso verpflichtet fühlt wie der Ehre. Was er anzubieten hat, ist Freundschaft, Liebe, Anerkennung, Miteinander-Sein und Zuwendung.
Sein Helm ist mit Flügeln verziert, einem Symbol für das Luftelement, das ja auch als Medium der Übermittlung dient – der Kelchritter bringt auch Neuigkeiten und Chancen. Seinen Auftrag nimmt er sehr ernst, sein Gesicht ist konzentriert und die Haltung vielleicht ein wenig steif – er weiß um die Ernsthaftigkeit, die in allem liegt. Wo er erscheint, geschieht etwas im emotionalen Bereich des Rat Suchenden.
Da die Karte aber nun einmal einen Ritter darstellt, geht es auch um Regeln. Auf dem Höhepunkt der Minnekunst gab es so viele Regeln darüber, wer mit wem wann flirten durfte und auf welche Weise, dass sie Bände gefüllt hätten. Es ging bei der Sache auch um Ränge und Etikette – um das Verliebt-Sein handelte es sich eher vordergründig. Heute lächeln wir darüber, aber dennoch halten wir es kaum anders. Auch wir kennen gewisse Regeln, die der Zeitgeist bildet.
Daneben gibt es auch Dinge, die sich nicht ändern und eher in die Kategorie "unausgesprochene Gesetze" fallen. Freundschaft ist ebenso wie Liebe eine Angelegenheit, die behutsam angegangen werden muss. Hätte ein Herr von Rang sich überstürzt vor die Füße einer Dame geworfen, so hätte er sich – bildlich ausgedrückt – so richtig zum Narren gemacht. Für einsame Frauen, die sehnlichst auf einen Ritter warten, der auf einem weißen Pferd dahergeritten kommt (das gilt natürlich auch für Männer, die ihr ganzes Leben lang auf eine Prinzessin auf einem Zelter warten), sei das eine eindeutige Warnung, denn derjenige Mensch, der justament auftaucht, wenn er gebraucht wird, ist nicht unbedingt leicht zu erkennen.
Und wer kennt nicht das Gefühl, beim Kennenlernen so ziemlich alles falsch gemacht zu haben, was man falsch machen kann. Das betrifft Bewerbungsgespräche ebenso wie Rendezvous oder "einfache" Treffen auf freundschaftlicher Basis. Sieht man den Kelchritter als Person, bezeichnet die Karte einen liebevollen und freundlichen Menschen in unserem Leben – oder eine entsprechende Person wird auftauchen; vom wohlmeinenden Kollegen bis hin zum Liebhaber/in ist alles möglich.
Aber auch wenn die Karte nicht einen tatsächlichen Menschen darstellt, so bedeutet sie immer eine Chance oder ein Angebot. Natürlich kann es je nach Fragestellung auch bedeuten, dass man selber ein Angebot machen sollte ... vielleicht wäre es an der Zeit, sich zu erklären oder eine Streitigkeit beizulegen. Gefühl und Ritterlichkeit sind die Themen dieses Arkanums, nicht von ungefähr wird der Kelchritter auch als Gralsritter gedeutet. Es geht darum, zu erkennen, dass man auf der Suche ist, und auch darum, am Ende wirklich zu erfassen, was man gefunden hat.
Ist die Karte als Warnung zu sehen, dann weist sie auf leere Pose hin – auf Lippenbekenntnisse. Sie zeigt dann Situationen, in denen Liebe oder Freundschaft gedacht, aber nicht gefühlt wird. Unechte Gefühle sind hier der Punkt – weniger solche, die absichtlich vorgegeben werden, als irrtümliche.
Der Page der Kelche
Die Frage, ob der Kelchbube auch bei der Feier war, erübrigt sich – er war nämlich die Feier. Ein junger Mensch, der zu allen freundlich ist, charmant und mit Augenzwinkern. Der Kelchpage steht am Meer und hat tatsächlich einen Fisch in seinem Kelch – er schöpft aus dem Vollen. Ihm fliegt alles zu und er hat meist Glück bei dem, was er anpackt. Patzt er ... nun, dann setzt er seinen Charme ein, dem kaum jemand widerstehen kann.
Kennen Sie solche Menschen? Wer sieht nicht zuweilen neidvoll auf Kollegen oder Freunde, denen alles flink von der Hand geht und die bei allen beliebt sind. Diese auf sympathische Weise durchtriebenen Charmebolzen erreichen mühelos, was uns selber Anstrengung kostet. Leisten sie sich einen Patzer, dann grämen sie sich keine Minute, so wie unsereins das tut, sondern machen einen Witz darüber, legen den Kopf schief, grinsen und zucken die Achseln. Und natürlich wird ihnen sofort vergeben. Man kann sie nicht einmal hassen, denn sie sind meist hilfsbereit und richtig nett. Die charmanten kleinen Gaunereien emotionaler Natur fallen da wirklich nicht ins Gewicht – man muss sie einfach mögen.
Und sie können uns auch viel lehren, nämlich das "aus dem Vollen schöpfen" zum Beispiel. Der Ozean ist für alle da und Fische gibt es in riesigen Mengen. Soll heißen, dass das Glück nicht nur für einige wenige Menschen reserviert ist und bereitwillig zu jedem kommt – außer, es wird schon im Vorfeld vertrieben.
"Ich bin dümmer als die anderen, ich sehe nicht so gut aus wie X oder Y. Geld kommt nur dahin, wo schon welches ist. Niemand kann mich leiden, jeder will mich austricksen und übervorteilen." Wer sich das täglich einredet, wird nicht nur einen angebotenen Fisch nicht erkennen, er würde sogar einen ganzen Fischkutter übersehen.
Oder nehmen Sie das Bild von einem Menschen, der auf einer kleinen Insel sitzt und sich grämt, dass er nicht fortkommt. Der Kelchbube macht das so: Er springt mit Begeisterung hinein in den Ozean (also in das pralle Leben) und kunststückt wie ein Delphin zu der nächsten Insel und dann weiter und weiter. Das ist nichts, was nicht jeder könnte – außer denen, die sich an ihre kleine Insel klammern. Alles, was dem Kelchbuben so leicht fällt, können Sie auch – vielleicht nicht ganz so toll am Anfang, aber den Versuch ist es auf jeden Fall wert.
Vielleicht wollen Sie ja auch gar nicht alles so machen wie er ... vielleicht reicht Ihnen ja ein Bruchteil davon. Denn die Gefahr für den Buben liegt in der Oberflächlichkeit und in der ständigen Mühelosigkeit. Irgendwann muss er, wie der Kelchritter, in die Tiefe gehen und sich auf seine Suche begeben – versäumt er es, wird die Ziellosigkeit sein Leben bestimmen. Dann haben wir es mit sechzigjährigen "durchtriebenen kleinen Jungs" und ebenso alten "herzigen Mädchen" zu tun, deren Kunststücke keiner mehr sehen will.
Der Bube der Kelche ist – mehr noch als der Ritter – eine Chance, die in das Leben tritt – ein viel versprechendes Angebot und vielleicht einmal wieder eine längst fällige glückliche Fügung. Er bringt gute Nachrichten und Geschenke und zeigt, dass wir sehr wohl bekommen können, was uns gerade fehlt.
* * * Tarot-Hofkarten Kelchritter und Kelchpage: Ende der Leseprobe aus unserem Buch * * *
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© "Die Hofkarten Kelchritter und Kelchpage": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), Eleonore Radtberger, 2010.
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