|
Ich wurde vor einigen Tagen gefangen genommen – seit der Zeit bin ich hier. Man hat mir nicht gesagt, was ich getan haben soll, aber das wundert mich nicht, denn sie sprechen kaum mit uns.
Das Essen hier ist nicht schlecht, besser als das auf der Straße. Bevor ich mein Heim verlor, hätte ich so einen Fraß nicht angerührt, ich war weitaus besseres gewohnt. Ich hatte eine Familie, so wie die meisten von uns auch.
An meine Kindheit erinnere ich mich kaum, meine Mutter war zärtlich, das weiß ich noch, aber wir wurden schnell getrennt und ich kam zu fremden Leuten. Die waren nett zu mir, ihre eigenen Kinder waren es auch, ich wurde akzeptiert und wir spielten wilde Spiele miteinander. Ich fühlte mich wohl und glaubte, dass es immer so bleiben würde.
Als ich größer wurde, bekam ich manchmal Ärger wegen der Mädchen in der Nachbarschaft, es gab unheimlich viele attraktive Weiber, und ich hatte zu der Zeit kaum etwas anderes im Kopf. Das gab Strafpredigten und Verbote, besonders wenn ich nachts unterwegs gewesen war.
Irgendwann lernte ich, dass es noch mehr gab als das – vor allem liebte ich Raufereien. Wenn man in Habachtstellung über die Straße schlendert und diesen besonderen Blick spürt, dann ist das wie ein Adrenalinshot. Der andere versucht einen niederzustarren, man starrt zurück und weicht nicht aus. Dann ist es wie ein Tanz, steifbeinig aufeinander zuzugehen und sich langsam zu umkreisen.
Manche der Gegner beleidigen einen in einem fort, manche bleiben stumm – das sind die Gefährlicheren. Ist man allein unterwegs, kann man die Sache wie echte Kerle abhandeln. Manchmal ist der andere eine richtige Lusche und haut ab, bevor man richtig an ihn rangekommen ist, und manchmal hört der Kampf erst auf, wenn einer am Boden liegt. Ist die Familie dabei, kann man sich nicht unbedingt wirklich Respekt verschaffen, man brüllt eben rum, damit der andere weiß, was Sache ist – man merkt sich den auf jeden Fall. Beim nächsten Mal testet man es dann aus. Das sind so die Dinge, die man für wichtig hält, wenn man jung ist.
Ich war natürlich anders als der Rest der Familie, das versteht sich. Aber wirkliche Schwierigkeiten gab es eigentlich nie. An meine richtige Mom dachte ich nicht mehr, das ist für unsereinen der Lauf der Dinge. Irgendwann wurde alles anders für uns alle. Das ging nicht schnell, von einem Sonnenaufgang zum anderen, das brauchte seine Zeit. Erst einmal bemerkte ich, dass "Papa" nicht mehr fortging am Morgen, so wie er es sonst immer getan hatte. Er blieb nun bei uns und spielte mit uns allen. Anfangs tat er das jeden Tag, herrliche Zeiten im Hof, wo der Ballkorb hing.
Ich kriegte nie einen Ball da rein, aber ich liebte das Rumrennen und Springen über alles. Aber bald hörte das auf und wir spielten wieder alleine. "Papa" blieb immer öfter drinnen liegen und schimpfte ab und zu, wenn wir zu laut waren beim Spielen. Da bekamen wir alle unser Teil ab. Etwa um diese Zeit herum wurde es wirklich schlechter mit allem – das Essen wurde auch immer weniger. Die richtigen Kinder der Familie waren immer seltener daheim, sie gingen dem Krach aus dem Weg.
Mit mir wollte sich auch keiner mehr so richtig abgeben, und immer öfter zankten sich alle wegen mir. Sie wussten nicht, dass ich es mitkriegte – aber klar, dass ich so was im Gespür hatte. An solchen Tagen machte ich mich unsichtbar, so gut es eben ging – meist trieb ich mich draußen rum, balgte ein wenig mit den Kerls und schäkerte mit den Mädels. Die Nachbarn mochten mich deshalb nicht und gaben mir recht üble Namen, aber man hat ja ein dickes Fell.
Zuhause roch es immer sonderbarer, das lag an diesem Zeug, das getrunken wurde. Früher hatte es das nicht gegeben, aber seit "Pop" nicht mehr wegging, hing der Gestank immer schwerer in der Luft. "Mom" heulte deswegen oft, aber er brachte sie ziemlich schnell zur Ruhe. So wie er es sich bei uns allen angewöhnt hatte. Wenn das Anblaffen nicht half, dann tat er uns weh. Ich lief immer öfter weg, um aus seiner Nähe zu kommen – mein Abendessen fiel deswegen zwar aus, aber man kriegte auf der Straße immer mal was. Manche Leute schauten mich mitleidig an und steckten mir was zu.
Es muss auf den Herbst zugegangen sein, als ich im Morgengrauen in den Hof schlich, um mich auf der Verandabank langzulegen, als alles merkwürdig verändert war. Es war still im Haus, zu still. Kein einziges Geräusch gab es. Und richtig, das Auto war nicht da. Es war sehr lange nicht vorgekommen, dass alle auf einmal das Haus verlassen hatten, es war mehr als ungewöhnlich. Trotzdem legte ich mich hin und wartete.
Aber sie kamen nicht mehr zurück – sie waren abgehauen und hatten mich hier zurückgelassen. So begann mein neues Leben auf der Straße. Es ist nicht so schlimm, wie man vielleicht denkt, man muss nur viel Lehrgeld bezahlen, bis man weiß wie man überlebt. Klar, dass man Abstriche machen muss – vor allem, was das Essen betrifft – und man wird auch wie ein Aussätziger behandelt. Kaum einer hat noch ein freundliches Wort für einen etwas dreckigen Vagabunden übrig.
Ich aß, was ich bekommen konnte, und schlief, wo immer ich mich sicher fühlte. Manchmal bettelte ich, manchmal stahl ich auch. Und natürlich raufte ich, wo immer es ging – immer noch der Weiber wegen natürlich – und auch, weil ich es brauchte. Ich hatte mich auch verändert, seitdem ich allein war. Ich ging keinem Streit mehr aus dem Weg, in mir war Hass und Angst und Sehnsucht. Sehnsucht nach dem "nicht allein sein müssen". Aber überleben musste ich auch, und niemand fragte mich, ob ich vielleicht ein Zuhause brauche.
Als ich das letzte Mal etwas zu Essen gestohlen hatte, war ich etwas abgelenkt, seit einigen Tagen ging es mir nicht so gut – ich hatte Prügel bezogen von einer Rotte Angeber und war noch etwas angeschlagen. Meine Reaktionen waren nicht wie immer, so wurde ich gefangen. Jetzt geht es mir besser, ich hab auch keinen Hunger mehr, weil man hier genug bekommt. Ein Arzt war auch da und hat mir eine Spritze verpasst, danach gings mir recht gut.
Aber sie haben mich aus der Zelle geholt und in diesen Raum hier gebracht – sie denken, dass ich nicht wüsste, was geschehen wird. Aber die anderen haben es mir gesteckt. Außerdem ... ich konnte es riechen. Ich habe nie irgendwem was getan, ich hab nie irgendjemanden verraten oder wehgetan. Ich hab sogar versucht, nach ihren Gesetzen zu leben – aber jetzt bin ich hier und warte auf meinen Tod.
Ein paar Tage lang werde ich noch hier sein, dann werden sie mich holen, wenn niemand mich haben will. Das hier ist der Todestrakt des Tierheimes, wie die Menschen dieses Haus nennen. Wer sollte einen verfilzten Streuner wie mich schon wollen ...
© "Todestrakt (Death Row)": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Foto des Hundes: Lothar Seifert.
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
2 der kelche |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed