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(07.03.2010) Die Meldung des Tages liest sich wie eine Science-Fiction-Story der dunkleren Art – ein junges Paar aus Südkorea ließ sein Kind verhungern. Soweit ist das leider nicht ganz so ungewöhnlich, denn an Verwahrlosung, sprich an der Gleichgültigkeit der Eltern, ist schon mehr als ein Baby gestorben.
Was diesen Fall so "besonders" macht, ist die Tatsache, dass die Eltern ihre Fürsorglichkeit einem virtuellen Kind angedeihen ließen, während sie ihr eigenes vergaßen. Das Paar verbrachte wohl den Großteil seiner Zeit in Internetcafes und ließ das kleine Mädchen zu Hause. Anfänglich kümmerten sich Großeltern um das Kind, aber nach einem Umzug war das Schicksal des Kindes besiegelt.
Online-Spiele, die eine Art Tamagotchi der Superlative darstellen, sind im Web ein Renner. Niedliche Tierchen oder auch süße Menschenbabys können adoptiert und fast wie im realen Leben versorgt werden. Wie bei allen anderen Rollenspielen steigert sich der Erfolg per Mausklick – einfach im Sitzen. Die kleinen Pfleglinge sind wirklich pflegeleicht in diesem Sinne des Wortes, denn schließlich sind sie abschaltbar.
Die Vorstellung, dass ein computeranimiertes Kind in jeder freien Minute versorgt wird, während ein reales langsam verhungert, ist erschütternd – aber nicht wirklich verwunderlich. Was dieses zweifellos überforderte Paar tat, war nichts anderes als das, was viele Menschen täglich tun, nur mit erschreckender Konsequenz. Die beiden digitalisierten ihr Leben, um es einfacher zu machen. Ein lebendiges Kind reagiert natürlich nicht wie eines, das programmiert ist. Es wächst nicht so schnell heran, ist eigenständig, und es ist schwierig.
Das Internet bietet für fast alles, was im Leben nicht einfach so geht, einen Ersatz. Online-Spiele lassen übergewichtige Weicheier zu gefürchteten Kriegern werden. In den unzähligen Spaß-Communitys mutieren füllige Damen und Herren mittleren Alters zu attraktiven Dessous-Models. Jeder kann virtuell genau das Leben haben, das er sich immer gewünscht hat, und auch genau so viele Freunde, wie er immer wollte.
Es gibt Menschen, die den Laptop vor der Kaffeemaschine einschalten, was nicht wundert, denn das mobile Teil wird sogar mit ins Bett genommen. Wenn man sich auf eine Reise durch die verschiedenen Plattformen begibt, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn die Welt besteht fast nur aus erfolgreichen Geschäftsleuten. Entrepreneure sitzen Klick an Klick, ebenso wie die vielen Coaches. Jeder zweite bietet irgendein Coaching an, das wahrscheinlich keiner in Anspruch nimmt, aber es klingt nun mal gut. Andere nennen sich Telefon- oder Personaltrainer und verkaufen gesunden Kaffee, ein sündhaft teures Wellness-Produkt und die einmalige Chance für immensen Reichtum gleich mit.
Die meisten dieser Seiten kann man getrost vergessen, die Eigner sind irgendwann einem System anheimgefallen, das mit einer Downline arbeitet und sich so ins Endlose verbreitet, ohne je einen nennenswerten Gewinn einzubringen. Den haben meist nur die Betreiber. Entrepreneur kann sich jeder nennen, der einige Links in seinem Profil vorweist und somit "Wissen verbreitet". Das alles ist nicht neu, ein wenig hochstapeln wird wohl erlaubt sein. Aber das wirklich Beängstigende ist etwas anderes.
Die ständige Präsenz der Seiteninhaber kann einen ins Grübeln bringen. Früh morgens kann man lesen, dass gerade Kaffee getrunken wird, und allein dieser Satz zieht einen Schwanz von gut zwanzig Kommentaren nach sich. Von "Kann ich auch einen haben?" bis "Riecht ja lecker" ist fast alles vertreten. Was immer den Seiteneignern widerfährt, es findet sofort seinen Weg auf die Profilseite. Wann also, so fragt man sich, machen die Leute ihre Geschäfte, trainieren ihre Kunden oder versorgen ihre Familie? Wann gehen sie raus mit dem Hund, der so herzig auf den Fotos aussieht, und wann treffen sie sich mit realen Freunden? Viele haben das "glücklich verheiratet" direkt unter dem Profilfoto stehen, sind aber von früh bis weit nach Mitternacht online.
Seit Applikationen in Mode gekommen sind, also virtuelle Geschenke und Grußkarten, die man verschicken kann, scheinen manche Leute im Akkord zu arbeiten. Für viel zu viele Menschen spielt sich das Leben im Internet ab. Mit der Zeit wird die Kluft immer größer – zwischen dem realen Leben, und dem aus zweiter Hand. Und hier kann man getrost Ansätze sehen, die zu solchen Dingen, wie dem beschriebenen Fall, führen können.
Wer 12 Stunden täglich Herzchen, Pralinen und Plüschtiere per Klick austauscht, hat eigentlich keine Zeit mehr für wirklichen Austausch mit realen Menschen. Liest man manche Kommentare, kommt der Verdacht auf, dass die Leute von einem Leben erzählen, das sie gar nicht mehr haben, weil sie es längst ausgetauscht haben gegen eine virtuelle Existenz, in denen niemals die Wahrheit gefragt ist, sondern das, was man eintippt.
Von hier ist es kein allzu großer Schritt zu einer mittleren Pfütze auf dem Parkett, weil man den lebendigen Hund zu Gunsten eines virtuellen vergessen hat, auszuführen – und in letzter Konsequenz zu der verdrängten Existenz eines Kindes, das langsam aus dem Leben verschwindet, weil man ihm das Notwendigste nicht mehr gibt. Einfach, weil man es nicht mehr wahrnimmt. Hätte das Gesicht des kleinen Mädchens unverhofft auf dem Bildschirm erscheinen können, wären die Eltern vielleicht noch einmal aufgewacht.
© "Klick muss man im Leben haben – manche haben keins": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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