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Dass es in vielen Ländern der Erde nicht selbstverständlich ist, dass die meisten Menschen lesen und schreiben können, wissen wir. Die Schulpflicht gilt nicht überall, und vielerorts kostet der Schulbesuch Geld. Das wiederum macht es für die Armen unmöglich, ihren Kindern so etwas wie Bildung zu ermöglichen. Regierungen fahren überdies nicht allzu schlecht damit – so verfügen gewisse Länder über eine Masse von ungebildeten Arbeitskräften, die sich weitaus besser ausbeuten lassen, als andere, die etwa lesen können.
Aber das Problem gibt es auch in Europa, und natürlich auch in Deutschland. Der Unterschied zu einem Land – wie beispielsweise Indien – liegt in der Bewertung, denn dort ist Armut der Grund. Schon zu Zeiten von Mahatma Gandhi galt es als Schande, ein Analphabet zu sein, da es als Zeichen der Dummheit gilt. Das ist allerdings ein Vorurteil, denn wenn einige Faktoren zusammenwirken, verlässt ein Kind die Schule und ist kaum – oder gar nicht – in der Lage, geschriebene Worte zu verstehen oder gar zu schreiben.
In der Zeit der Weltkriege des vorigen Jahrhunderts wurden viele aus ihrem vertrauten Leben gerissen, was bedeutet, dass sie die Schule nicht mehr besuchen, oder aber erst gar nicht eingeschult werden konnten. Das Problem lag oft darin, dass diese Kinder den Anschluss nie mehr fanden, was sicherlich auch mit den traumatischen Erlebnissen zu tun hatte, die verarbeitet werden mussten. Und nach dem Krieg wurden zupackende Hände gebraucht – vieles war weniger wichtig, als es vielleicht zu anderen Zeiten gewesen wäre.
Bevor die Legasthenie erkannt und diagnostiziert wurde, also die angeborene Lese- und Rechtschreibschwäche, wurden viele Kinder mit ihren Problemen ausgegrenzt und als Versager abgestempelt. Man wusste es nicht besser, und die Betroffenen mussten zusehen, wie sie damit durchs Leben kamen. Wer kaum oder gar nicht lesen konnte, vermied so gut er konnte, dass jemand es merkte. Das ist nicht sehr einfach und braucht zum Teil ziemlich große Gedächtnisleistungen.
Natürlich ist das Problem heutzutage bekannt und überall werden Kurse angeboten, doch weigern sich viele Erwachsene in ihrem Alter noch einmal "die Schulbank" zu drücken. Besonders dann, wenn das Lernen in der Kindheit und die Schule so schmerzhaft belegt war, dass ein Kind – oder Jugendlicher – so große Blockaden aufbaute, dass er zum Analphabet wurde.
Wer schon einmal gehört hat, wie betroffene Erwachsene ihren Alltag schildern, der ist bestürzt und entsetzt. Denn bei der Arbeit, wie auch im Privatleben, gibt es tausende kleiner und großer Hürden zu bewältigen. Wer nicht erkennen kann, um welches Produkt es sich handelt, muss sich diese Informationen anders beschaffen. Man kann sich gut an Symbolen orientieren, denn auf vielen Verpackungen, Flaschen und Tiegeln gibt es Bilder, die einen Bezug zum Artikel herstellen. Aufmerksam die Werbespots verfolgen kann ebenfalls hilfreich sein, denn man kann sich die Aufmachung einprägen. Aber das sind die geringsten Probleme – massiv werden die Einschränkungen bei Medikamenten, Verträgen, Rechnungen oder dergleichen.
Ein Analphabet kann weder das Kleingedruckte lesen noch sich effektiv vor Betrug schützen. Gibt es vertraute Menschen, die von der Einschränkung wissen, steht man nicht alleine da – fehlt dieser Rückhalt, wird es sehr schwierig. Solange die Scham ein Faktor ist, kann kaum Hilfe angeboten werden, da kaum ein Betroffener um Hilfe bittet, da er die mangelnde Akzeptanz fürchtet und vor allem nicht als Idiot gelten will. Dabei hat die Unfähigkeit zum Lesen und Schreiben nichts mit den geistigen Fähigkeiten zu tun.
Niemandem wäre es im Mittelalter eingefallen, einen Analphabeten als dumm zu bezeichnen – vor allem, weil es durchaus die Regel war. Nur wenige konnten mit dem geschriebenen Wort etwas anfangen, das gewöhnliche Volk kam ohne diese Künste aus. Dafür gab es nämlich, hatte man mit Schriftverkehr zu tun, bezahlte Schreiber. Das war nicht anders als in der Antike, in der dieser Berufsstand unverzichtbar und hoch geachtet war. Die Handwerker hatten ihre Symbole und Zeichen, es gab Piktogramme und die berüchtigten Gaunerzinken. Und so mancher Herr von Rang war zwar von Adel, aber deswegen nicht von übergroßem Fleiß und Fähigkeiten, weswegen er Tinte und Feder durchaus lieber anderen überließ.
Viele gekrönte Häupter befassten sich nicht mit Schriften, allein deswegen, weil sie es nicht konnten. Zudem waren die meisten Bücher in Griechisch, Hebräisch oder in Latein abgefasst – so gesehen hätte dem Mann auf der Straße das Lesen nicht viel genutzt, handelte es sich nicht um Warenlisten oder Verträge. Niemand zog sich mit einem Talglicht in einen Winkel zurück, um eine Geschichte zu lesen – diese wurden erzählt oder gesungen und sorgten so für Abwechslung. Mit konserviertem Wissen ging zu gewissen Zeiten nur der Klerus um, der auch die meisten Gelehrten stellte. Auch das gilt ebenso für die Tempel Ägyptens wie für die Klöster Europas.
Die Dinge änderten sich erst mit der Erfindung des Buchdruckes und vor allem mit der Festsetzung einer allgemein gültigen Schriftsprache. Vorher waren Bücher etwas ungemein Kostbares, das mühsam von Hand erstellt werden musste. Sie hatten keinen Stellenwert im Leben der Menschen, sie hatten etwas mit Gelehrsamkeit zu tun. Als die ersten Flugblätter in verständlichem Deutsch gedruckt wurden, änderte sich das völlig – Schriften wurden zu einem neuen Instrument und etablierten sich langsam, aber stetig im Bewusstsein der Leute. Doch wäre es keinem eingefallen, sich zu schämen, wenn er jemanden bat, ihm doch zu erklären, was da geschrieben stehe. Denn noch immer war es für die einfachen Leute nicht üblich, sich mit Buchstaben zu befassen.
Jeder Handwerker hatte ein Schild mit dem jeweiligen Zunftzeichen am Laden, niemand suchte nach einem geschriebenen Hinweis. Grenzsteine trugen Wappen und nicht etwa Namen, gleiches betraf die Stadttore. Soldaten, Knechte und Gesinde bekamen ihre Anweisungen, und damit hatte es sich. Diener, die geschriebene Anweisungen lesen und ausführen konnten, waren natürlich von einem gewissen Wert, was die Oberschicht durchaus erkannte, doch häufig kam dies nicht eben vor.
Es war noch ein langer Weg bis zur Schulpflicht, und die war trotzdem kein Garant für den angestrebten Erfolg. Man hielt von Pädagogik nicht besonders viel, dafür aber umso mehr von Rohrstock und Karzer. Das ist nicht unbedingt förderlich und die Erfolgsquote dabei nicht besonders hoch – unter großem Druck kann nicht jeder etwas aufnehmen.
Auf jeden Fall sollten wir uns vor Augen halten, dass das Analphabetentum kein Problem der Dritten Welt ist, sondern auch Europa und selbstverständlich auch Deutschland angeht – mit steigender Tendenz, was Schulabgänger betrifft, die nur sehr ungenügend lesen und schreiben können. Wenn wir die Ursachen erforschen und die Worte "Analphabet" und "Dummheit" nicht mehr miteinander koppeln, haben wir eine realistische Chance, diese Schlacht mit dem längst fälligen finalen Sieg zu beenden.
© "Gedanken zum Weltbildungstag im September": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Buch mit Brille lessen, CC0 (Public Domain Lizenz).
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