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Bald ist es wieder soweit, die Uhr wird umgestellt. So wie jedes Jahr, am letzten Sonntag im März, verändert sich der Rhythmus wieder. Es wird wieder eine Stunde fehlen – das bedeutet, dass wir einen kleinen Zeitsprung in die Zukunft machen werden.
Irgendwie in der Nacht verschwinden sechzig Minuten unserer sowieso schon knapp bemessenen Zeit. An diesem Morgen werden einige Menschen etwas müder sein als sonst, aber eigentlich verändern wird sich nur etwas an der messbaren Zeit, die ja, wie jeder weiß, nichts weiter als eine Maßeinheit darstellt, mit deren Hilfe man etwas misst, das es so nicht gibt.
Es ist für uns nicht mehr vorstellbar, dass es Zeiten gab, in denen es kaum so etwas wie Chronometer gab. Man richtete sich nach der Sonne und ihrem Lauf, nach dem Mond, den Sternen und nach den Jahreszeiten. Das war für die Bedürfnisse der vorgeschichtlichen Menschen wahrscheinlich genug. Man nutzte das Tageslicht aus, so gut es eben ging – ein großer Teil der Arbeit spielte sich im Freien ab. Ob nun Jagen oder Felder pflegen, Sammeln von Essbarem oder Felle bearbeiten, das tat man nicht in der Hütte oder der Höhle.
Wahrscheinlich gab es außer dem Feuerschein der Kochstellen nicht viel Licht nach dem Sonnenuntergang, aber es ist wohl auch anzunehmen, dass die Menschen früh schliefen – eben um möglichst viel im Tageslicht tun zu können. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass ein Mensch der Steinzeit sich hastig von seiner Familie verabschiedet und dann durch den Wald hetzt, um ja nicht zu spät zu einem geschäftlichen Treffen zu kommen, bei dem er Speerspitzen beim Feuersteinschläger des Nachbarlagers tauschen und auf gar keinen Fall den genauen Termin versieben will.
Diese sonderbare Geißel der Menschheit war noch nicht erfunden worden: der Termin. Und wenn man Zeitpunkte benannte, waren diese für unser heutiges Empfinden doch sehr dehnbar, bzw. schwammig. Erstaunlicherweise überlebten diese Menschen in so großer Zahl, dass wir sie uns als unsere Vorfahren denken dürfen – trotz fehlender Digitaluhren. Vielleicht kann sich der eine oder andere das Gesicht eines dieser Glücklichen vorstellen, versuchte jemand ihm Sinn und Wert der minutiösen Lebensweise zu vermitteln. Vielleicht kann man sich auch dunkel vorstellen, was der Betreffende davon und im Besonderen vom neuzeitlichen Menschen halten würde.
Die Antike kannte zwar schon Messgeräte, die auch eingesetzt wurden, allerdings war der Griff des Chronos noch recht sanft im Gegensatz zu heute. Öffentliche Gebäude und Plätze waren mancherorts mit Wasser- oder Sonnenuhren versehen, und man hatte Wege gefunden, um die Tage in mehr oder weniger akkurate Abschnitte einteilen zu können. Das Diktat der Zeit wurde mit jeder neuen Erfindung zum Markieren derselben strenger, bis hin zu den Turmuhren des Mittelalters, über die bald jede Stadt verfügte. Gleichzeitig mit der nun praktisch feststehenden Zeit stieg vermutlich die Kreativität, was Ausreden betraf.
Noch eine kleine Atempause gab es, denn selbst als der Schlossermeister Peter Henlein zu Nürnberg die allerersten Taschenuhren baute, war solch ein unerhörtes Ding nichts, das sich ein jeder leisten konnte. Wer also fern einer befestigten Stadt lebte, orientierte sich noch ein wenig länger an Sonnenaufgang oder Gockelhahn und wusste nicht, wie glücklich er sich schätzen konnte. Mit den tragbaren Uhren allerdings war die letzte Chance auf natürliches Zeitempfinden dahin, und Chronos übernahm endgültig die Herrschaft.
Stellen wir einen unserer Tage dem eines vorgeschichtlichen oder antiken Menschen gegenüber, tun sich kaum noch messbare Abgründe auf. Eine Uhr bestimmt die Zeit, wann wir wach werden, und beim Frühstück lassen wir für gewöhnlich die Armband- oder Wanduhr nicht aus den Augen. Zusätzlich sagt eine Stimme im Radio in kurzen Abständen die genaue Zeit an. Manche hören in ihrem Stadtviertel obendrein das Läutwerk einer Kirchenuhr. Wer sich jetzt zur Arbeit an den Computer setzt, sieht ständig die Uhrzeit. Das gilt auch für das Auto, in dem man zur Arbeit oder sonst wohin fährt.
Den Kindern werden minütlich genaue Ansagen geliefert, damit sie sich etwas beeilen am Morgen, und zum Stadtbild gehören Uhren ohne Ende in allen Variationen. Jedes Mal, wenn das Handy gezückt wird, leuchtet fröhlich die Uhrzeit auf. Man entkommt ihr nicht. Es ist Zeit ... Zeit zum Aufstehen, zum Frühstücken, zum Arbeiten, zum Essen, zum Ruhen, zum Spazierengehen, zum Schlafen. Wir haben so etwas wie ein drittes Auge bekommen, und das klebt praktisch an irgendeinem Zifferblatt oder einer digitalen Anzeige.
Die Industrialisierung machte eine Gleichschaltung notwendig, die Massen mussten irgendwie das Gleiche zur selben Zeit tun. Aber wo das nicht der Fall ist – wie im privaten Leben – agieren wir freiwillig nach der Knute des Zeitdiktats und bringen es nicht fertig, das Zifferblatt vor der Stirn außer Acht zu lassen. Der Takt der Sekunden bestimmt unser Leben zu einem großen Teil, und wo Menschen nicht mithalten können, kommt Angst auf.
Etwas versäumen, bestraft werden, zahlen müssen, nicht der Erste sein, vor der Tür stehen ... so etwas vergällt oft auch die "Freizeit". Die gibt es, so gesehen, nämlich auch nicht wirklich. Man hat uns eingeredet, dass wir täglich nur so und soviel Zeit zur Verfügung haben – und da wir das glauben, ist es auch so. Als treue Chronosjünger lassen wir uns auch dann unser Tun einteilen, wenn wir es gar nicht müssten. Im Urlaub etwa oder nach Feierabend. Aber den genießt auch kaum einer, denn vor dem geistigen Auge blinkt schon die Weckzeit für den nächsten Morgen auf, kaum dass wir dem Diktat des Fernsehers entkommen sind.
Es wird Zeit, dass man darüber nachdenkt – aber zum Schluss noch einmal zurück in die Vorzeit. Gleichgültig, wen man da traf und wie man sich begrüßte, niemand hat je nach der Zeit gefragt oder wie spät es ist. Hätte das irgendjemand getan, hätte der Gefragte wohl fassungslos in die Höhe gedeutet, wo die Sonne die Tageszeit anzeigte und wo das genug war für jeden.
Informationen zur Sommerzeit
© "Zeitverschwendung: Die Uhr wird umgestellt": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Sommerzeit Winterzeit: Zwei Wecker, CC0 (Public Domain Lizenz).
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