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Ein Freund erzählte mir von den Sommern seiner Kindheit, die er in einem kleinen Dorf verbracht hatte. Er geriet ins Schwärmen dabei, denn alles um ihn herum war Abenteuer. Der Bach, der sich hervorragend eignete, wenn man Flöße bauen wollte (die immer untergingen), der Wald für die Indianerspiele, und auch die Wiesen, um jeden erdenklichen Unsinn anzustellen.
Man kam am Abend nach Hause, um zu essen, sich zu waschen und hier und da auch, um sich eine Bestrafung abzuholen, wenn sich irgendein Nachbar oder Bauer beschwert hatte. Und am nächsten Tag ging das Abenteuer weiter. Jedenfalls in den Schulferien.
Die Sommer meiner eigenen Kindheit waren Stadtsommer, wenn es sich auch um eine Kleinstadt mit ganz viel Landschaft drumherum handelte. Man traf sich an den Ecken, den Spielplätzen oder auch bei irgendeinem Freund daheim und zog los. Der Stadtsommer hat einen ganz bestimmten Geruch: nach warmem Teer und dem bitteren Duft der Brennnesseln und den anderen "Unkräutern", die sich partout nicht an die Begrenzung der niedrigen Gartenmäuerchen halten wollen. Wenn es geregnet hatte, konnte man die trocknende Nässe auf dem Asphalt riechen. Im gleißenden Sonnenlicht gab es diese Inseln scharfer Schattenbilder, die von den schmiedeeisernen Zäunen oder Mauern geworfen wurden. Diese Bilder haben immer noch ein besonderes heimeliges Flair an sich.
Jede Münze, die man ergattert hatte, wanderte zum nächsten Lädchen, das eine Eistruhe hatte. Besonders beliebt war das billige "Wassereis", das tatsächlich vor allem aus Wasser bestand, dem man Farbstoff und irgendeinen künstlichen Geschmack beigemischt hatte. Das Zeug hielt den Flüssigkeitshaushalt im grünen Bereich.
Damals hallten die Gehwege von dem Rattern der Rollschuhe richtig wider. Man konnte diese Dinger an jeden Schuh schnallen und auch schnell wieder abnehmen. Metallrädchen mit Lagern und Gummibereifung. Das waren die modernen Modelle. Die älteren Fabrikate brauchten noch einen Schlüssel, der meist um den Hals hing. Außerdem gab es diese Tretroller mit den luftgefüllten Reifen. Richtig große Teile waren das und nicht etwa diese winzigen Aluminiumdingerchen. Mit diesen Geräten waren wir der Schrecken der Straße.
Einen Bach, den man zum Baden benutzen konnte, gab es nicht. Nur einen Weiher. Der aber war so dreckig, dass da keiner reinwollte. Aber das Freibad gab es. Und wenn Ferien waren, stand man schon am Morgen vor der Tür und wartete auf den Einlass. Keine besondere Sache, nur ein großes Becken und eines für die Kleinkinder. Das hatte sogar eine Rutsche. Sonst konnte man von steinernen Startblöcken hüpfen oder auch von dem einzigen Ein-Meter-Brett. Das mit den drei Metern war meist gesperrt. In diesem Bad haben wir einen wesentlichen Teil unserer Kindheit verbracht. Der Chlorgeruch gehörte ebenso dazu wie der Duft von Sonnenöl und nassem Badezeug.
Es gab natürlich auch den unvermeidlichen Kiosk, der ungesundes Zeug überteuert verkaufte. Er roch auch nicht besonders gut, denn auf dem Fußboden befand sich durch die unzähligen nassen Füße verursacht eine Art Schmiere. Trotzdem ging man rein, um eine süße Waffel oder sonst irgendwas zu kaufen. Auch wenn man genügend Proviant dabei hatte. Es war ganz einfach Pflicht.
Im Nichtschwimmerteil des großen Beckens brachte ich mir selber das Schwimmen bei. "Das Wasser trägt einen" hatte ich irgendwo gehört oder gelesen, und ich verließ mich darauf. Klappte sogar. Und damit öffneten sich völlig neue Welten. Vor allem der "tiefe" Teil des Beckens. Man gehörte jetzt nämlich zu den Großen. Nach so einem aktionsreichen Tag im Freibad ging man ausgepowert aber zufrieden heim.
War das Wetter nicht gut am nächsten Tag, stieg man auf die Rollschuhe oder den Roller um. Später dann auf das Fahrrad, als man uns zutraute, den Kleinstadtverkehr richtig einzuschätzen. Tatsächlich habe ich einige Zeit meiner Jugend auf einem Klapprad verbracht. Mit diesen gemeingefährlichen Dingern machten wir Sachen, für die heute die Mountainbiker Preise kriegen. Wir donnerten die Landstraße entlang oder hoppelten auf steilen Waldwegen. Hügel rauf und Hügel runter.
Wenn man zuhause gewusst hätte, was wir mit unseren "Blades" und den Rollern so veranstaltet haben, hätte man uns niemals mit einem Fahrrad aus dem Haus gelassen.
Zum Glück wusste es keiner.
Der besagte, zum Schwimmen untaugliche Weiher eignete sich aber auch als Taschengeldgrab. Denn dort konnte man Ruderboote mieten. Das machte richtig Spaß, von der Mitte aus die Leute an den Ufern zu betrachten oder auch ein Wettrudern zu veranstalten. Außerdem war da diese Minigolfanlage. Die machte auch Spaß.
Sonntags mussten die meisten von unserer Clique die Familienausflüge mitmachen. Da ging es dann flott und mehrere Stunden lang durch den schönen Wald, hier und da unterbrochen durch üppige Rastgelage. Harte Eier, dick belegte Brote oder Brötchen, kalter Tee in Flaschen und zuweilen Kartoffelsalat im Behälter.
Rucksäcke waren Ehrensache und wurden mit Stolz getragen. Mein erster, kindgerecht kleiner Rucki war für mich eine Art Orden. Ich platzte fast vor Stolz, als ich ihn bekam. Der war nicht bunt oder auffällig. Nein, er sah genau aus wie die Rucksäcke der Großen. Grün und mit Lederriemen. Das war das Tolle daran.
Unterwegs Heidelbeeren naschen, lachen, zuweilen auch jammern, wenn man etwas im Schuh hatte, das gehörte dazu. Und dann kam man an einer der vielen Hütten im Wald an, wo es warmes Essen und irgendeine süße Plürre zum Trinken gab. Und vor allen Dingen die Schaukeln. Die waren das Beste an diesen Ausflügen. Ich schaukelte leidenschaftlich gerne, aber wer tat das nicht. Und dann, wenn sich so ein Sommertag dem Ende zuneigte, änderte sich auch der Geruch. Das Licht wurde einen Ton goldener und man brach auf. Nach einem ganzen Tag im Wald fuhr man meist mit dem Bus nach Hause, der die Ausflügler an einer zentralen Hütte einsammelte.
War man mit der Bande in eigenen Angelegenheiten unterwegs, sagte einem diese Veränderung der Schatten und des Lichteinfalls, dass es Zeit war, um Schluss zu machen und nach Hause zu gehen. Oft brauchte man sowieso ein oder mehrere Pflaster. Ich erinnere mich nicht, dass meine Knie oder Ellenbogen jemals frei von Pflastern, Krusten oder Schrammen gewesen wären.
Bei größeren Sachen holte Mutter dann diese Jodflasche aus dem Schrank. Da musste man durch. Aber sonst machte man kein Aufhebens darum. Das steckte man eben weg, so als Begleiterscheinung.
Der Sommer war etwas, das ewig dauerte. Jedenfalls kam es einem so vor. Und die Ferien waren eine unendlich lange Zeit der Freiheit. Damals, als man für den Tag, die Stunde und den Augenblick da war.
Heute, da die Jahre immer kürzer werden und die Jahreszeiten ineinander übergehen, entstellt und unberechenbar, heute spüre ich hin und wieder diesen Hauch von Erinnerung. Ein Geruch, ein Blätterrascheln oder eben diesen unverwechselbaren Geruch von Regen auf heißem Teer. Die Zeit ist verloren, aber immer halte ich einen Moment inne, um mich umzusehen und die Wahrnehmung zuzulassen.
Nein, sage mir keiner etwas gegen den Stadtsommer. Er hat eine ganz eigene Schönheit.
© "Der Stadtsommer und die unendlich lange Zeit der Freiheit: Erinnerungen aus Kindheit und Jugend der 1960er- und 70er-Jahre": Ein Essay von Ilona E. Schwartz (Pressenet), 07/2021. Bildnachweis (von oben nach unten): Mädchen im Schwimmbad | Junge mit Tretroller | Drei junge Menschen und Sonnenuntergang | Mädchen auf Fahrrad mit Hund.
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