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"Das Gift der Angst": Das sind elf Geschichten, die einen Bogen aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft schlagen. Phantastische, vielleicht auch beängstigende Geschichten sind es, mit unerklärlichen Erscheinungen und schrecklichen Ereignissen.
Die schaurigen Kurzgeschichten des Autors Tobias Jakubetz führen uns zu einem Bänkelsängermord im Mittelalter, ins Afrika während des Ersten Weltkriegs, nach Prag im Zweiten Weltkrieg oder auch auf einen Planeten von Gliese 370b.
Die Kurzgeschichtensammlung "Das Gift der Angst: 11 Phantastische Geschichten" wurde als broschierte Ausgabe (224 Seiten, ISBN 978-3945713808) im Mai 2020 vom Verlag Edition SOLAR-X herausgegeben. Unter den Genres Horror, Science Fiction sowie Fantasy sind die Erzählungen von Tobias Jakubetz auch als E-Book zu haben.
... Wer in dem Haus gegenüber lebte, wusste bei uns Zuhause niemand so recht. Ich hatte einmal meine Mutter gefragt, ob darin auch Kinder lebten, mit denen ich doch mal spielen könnte. Aber sie verneinte mit dem knappen Hinweis, das sei wohl nicht so, es lebe dort ein Mann, mit dem man aber nichts zu schaffen habe.
Dass ich dieses Haus erwähne, hängt mit meinen Beobachtungen an einem verregneten Nachmittag im Spätsommer 1979 zusammen. Ich saß damals allein in meinem Zimmer und langweilte mich, weil ich niemanden zum Spielen hatte und mit mir nichts Gescheites anzufangen wusste. Den Korbsessel an das Fenster gezogen, schaute ich ohne Interesse auf den herabfallenden dichten Regen, der den Tag grau machte. So war es in meinem ohnehin schon schummrigen Zimmer fast ganz dunkel geworden. Doch ich mochte kein Licht anmachen, ich benötigte es nicht.
Die Eintönigkeit des prasselnden Regens hatte beinahe meinen Verstand eingeschläfert, als ich mit einem Mal meinte, in den Augenwinkeln eine Bewegung in dem grauen Einerlei ausgemacht zu haben. Ich wendete meinen Blick zu dem im Regen noch schäbiger wirkenden Nachbarhaus, bei dem sich etwas gerührt zu haben schien.
So stellte ich fest, dass im mittleren der drei Fenster im ersten Stockwerk etwas ... Haariges saß. Ich konnte nicht gleich erkennen, um was es sich handelte, so diffus und undifferenziert war das Erscheinungsbild dieses Dings. Beeinträchtigt von dem Regenschleier kniff ich die Augen zusammen und starrte auf das absonderliche Haar- oder Fellbüschel. Allmählich meinte ich, eine Art Puppe oder Figur auszumachen, die so etwas wie einen Affen mit sehr viel dunkler dichter Behaarung am gesamten Körper darstellte. Allein das weiße blasse Gesicht war gänzlich unbehaart und stand optisch in einem unerklärlichen Gegensatz zu dem dunklen Rest der Figur. Ungewöhnlich dicht unter dem auffallend tiefen Haaransatz quoll ein herausfordernd dreinblickendes Augenpaar hervor, und über den vollen roten Lippen prangte eine spitze, flache und viel zu lange Nase.
Ich begriff nicht, wie dies zusammenpasste, mich durchfuhr angesichts der Absurdität der Konstruktion ein Schauer, und ich zog mich hastig vom Fenster zurück, um zu meiner Mutter zu laufen. Der fiel meine Ängstlichkeit gar nicht auf, so sehr war sie mit ihren alltäglichen Aufgaben beschäftigt. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, weil ich nicht als Angsthase gelten wollte. Allerdings drückte ich mich an jenem Abend länger als sonst mit fadenscheinigen Ausreden davor, ins Bett gehen zu müssen. Als es sich nicht mehr abwenden ließ, bat ich meine Mutter unter einem Vorwand darum, mit mir zusammen aus dem Fenster zu schauen, um ihr etwas Belangloses zu zeigen. Nur gemeinsam mit ihr traute ich mir den Blick aus dem Fenster zu, und zu meiner großen Erleichterung war die grausame Konstruktion aus Kasperkopf und Affenkörper nun nicht mehr zu sehen, obwohl die Lichtverhältnisse dies noch zugelassen hätten. Trotzdem verlangte ich zum Erstaunen meiner Mutter, dass sie die Vorhänge so weit wie möglich zuziehen möge. In jener Nacht jedenfalls half es mir, ruhig und tief zu schlafen.
In der folgenden Zeit blickte ich jeden Tag, anfangs verstohlen, dann immer entschlossener, aus meinem Zimmer auf die Fenster gegenüber. Die Figur zeigte sich nicht mehr, was mir allmählich meine gewohnte Sicherheit zurückgab. Freilich war sie damit nicht aus meinen Gedanken verschwunden. Vielmehr beschäftigten mich ständig Fragen danach, wie etwa, warum es diese Figur überhaupt gab und wo sie sich jetzt befand. Kein Kind würde doch freiwillig mit diesem abstoßenden Objekt spielen wollen! Wozu also gab es dann diese Puppe? Warum hatte sie sich überhaupt auf der Fensterbank befunden? Wer hatte sie dorthin getan? All diese Fragen wanden sich wie ein nicht enden wollender Wurm durch mein Hirn, fraßen nach und nach die anfänglich eingetretene Erleichterung über die Abwesenheit des Gebildes auf und hinterließen eine unangenehm bedrängende Form von Unwissenheit.
Trotzdem konnte ich mich im Laufe der Zeit irgendwie mit diesem Zustand arrangieren und mich damit abfinden, dass ich nun einmal nicht mehr wusste und auch nicht die Aussicht hatte, mehr als bisher zu erfahren. Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – merkte man mir gleichwohl an, dass ich auf eine gewisse Art und Weise neben mir stand. Jedenfalls begann meine Mutter, die bislang nichts von dem wusste, was ich meinte gesehen zu haben, seinerzeit mehr Zeit mit mir zu verbringen. Dabei las sie mir häufig aus Büchern vor, wobei mir eins davon besonders in Erinnerung blieb. Es war der Roman "Der Amphibienmensch" des russischen Schriftstellers Alexander Beljajew. Meine Mutter hatte das bei uns nicht erwerbbare Buch gebraucht über Verwandte erhalten, und obwohl es sich weder um ein Kinder- noch explizit um ein Jugendbuch handelte, las sie mir mit großer Freude daraus vor. Dass sie es trotzdem für geeignet hielt, mochte an dem jugendlichen Alter des Protagonisten und einer gewissen kindlichen Naivität, die das Buch verströmte, liegen.
Jedenfalls verängstigte mich die Geschichte über den armen Ichtyander nicht, sondern erregte eher mein Mitleid mit ihm. Denn der berühmte Chirurg Dr. Salvator, der auf einem einsamen Anwesen in der Nähe von Buenos Aires seinen Forschungsarbeiten nachging und mit Organverpflanzungen experimentierte, implantierte eines Tages Ichtyander, einem indianischen Waisenjungen, die Kiemen eines Haifischs und schuf damit einen Amphibienmenschen. Das sonderbare Wesen mit den riesenhaften Augen und den froschartigen Gliedmaßen flößte den Einwohnern von Buenos Aires Schrecken ein, sie hielten den Fischmenschen für einen unheilkündenden Meeresteufel.
Meine Mutter las an mehreren Abenden vor dem Zubettgehen aus dem Buch vor, und die Geschichte fesselte mich so sehr, dass ich sogar die grausige Figur aus dem Nachbarhaus vergaß. Schon bald schlief ich wieder, ohne dass die Vorhänge zugezogen werden mussten.
Eines Abends im späten Herbst – der "Amphibienmensch" war schon längst vollständig durchgelesen und ich hatte damit begonnen, mich mit einem Tierbuch für Kinder zu beschäftigen – konnte ich nicht einschlafen. Das Wetter war daran schuld, denn draußen wehte ein heftiger Wind und riss die Bäume hin und her, sodass sie ihre letzten Blätter verloren. Wütender Regen spritzte Dreck auf, der gegen mein Fenster flog. Die Nacht war dunkel und wild, an jeder Stelle bewegte und rührte sich etwas.
Ich lag so in meinem Bett, dass ich, wenn ich meinen Kopf nach rechts wendete, aus dem Fenster auf das Nachbarhaus sehen konnte. An dieses peitschte der Regen ebenfalls und rüttelte lautstark an den im Erdgeschoss herabgelassenen Rollläden. Die drei Fenster im ersten Stock hingegen waren ungeschützt.
Unruhig wälzte ich mich hin und her und konnte einfach nicht in den Schlaf finden. Als ich mich irgendwann zum ungezählten Male von der einen auf die andere Seite wendete, öffnete ich meine Augen und blickte nach draußen. ...
Hinweis: Tobias Jakubetz ist auch der Autor des 2019 erschienenen Horror-Thrillers "homo nivis". Lesen Sie hier unsere Rezension zu diesem bemerkenswerten Roman: Das Unbekannte ist nicht immer märchenhaft, der erste Kontakt nicht zwingend freundlich.
© Für die Texte zur Buchvorstellung aus "Das Gift der Angst: Elf Phantastische Geschichten" danken wir dem Autor Tobias Jakubetz sowie dem Verlag Edition SOLAR-X sehr herzlich, 09/2020.
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