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Lange Jahre war ich Blindenbegleitperson. Ich unterstützte Blinde oder stark Sehbehinderte bei organisierten Ausflügen, auf Kurzreisen oder Wanderungen, aber auch privat. Auch habe ich durch meine blinde Schwester Elisabeth, genannt Lisi, viele stark Sehbehinderte und Blinde kennengelernt.
In ihrer Kindheit hatte Lisi einen guten Sehrest, und sie ging in die Grundschule mit normal sehenden Kindern. Dass Lisi schlecht gesehen hat, wussten wir schon, aber zu Hause bewegte sich Lisi sehr sicher. Wir wurden auch nicht stutzig, wenn sie herumtastete, um irgendwelche Gegenstände, unter anderem ihre Brille zu suchen. Doch mit der Zeit fühlten wir uns nicht mehr wohl, wenn wir an unsere Lisi dachten. Als sie aus der Schule entlassen wurde und es an die Berufswahl ging, wurde meinen Eltern gesagt, dass Lisi keinen Beruf ergreifen könne aufgrund ihrer sehr schlechten Sehkraft.
Das Wort "Blindenschule" zeigte uns an, wie es um Lisi wirklich stand. Lisi war am Boden zerstört, aber nach einer Woche Blindenschule kam sie am Wochenende nach Hause. Dann sahen wir eine ganz andere Lisi, als die, die wir zum ersten Mal in die Blindenschule gebracht hatten. Sie brachte uns den Witz mit: "Warum kommen Blinde nicht in die Hölle?" – "Weil der Teufel Angst hat, dass sie ihm auf den Schwanz treten!"
Unsere Lisi wurde immer lustiger und aufgeschlossener, und so manches Mal brachte sie eine Freundin aus dem Blindenheim übers Wochenende mit. Ich kann mich an eine Blinde namens Reni erinnern, die bei uns übernachtet hatte. Lisi, sie und ich hatten Leibschmerzen vor Lachen.
Lisi machte in der Blindenschule eine dreijährige Lehre zur Phonotypistin, die sie mit "Gut" abschloss. Sie bekam auch gleich einen Arbeitsplatz nach der Ausbildung, und nachdem sie die Schule verlassen konnte, hatte Lisi noch sehr guten Kontakt zu ihren Schulkameradinnen.
Zunächst begleitete ich Lisi nur bei Spaziergängen, Ausflügen usw., aber ich hatte auch noch andere stark Sehbehinderte oder Blinde zu begleiten. Es war eine schöne, aber auch schwere Aufgabe. Es ist aber schon vorgekommen, dass die eine oder andere blinde Person psychisch "abstürzte", aber das kommt ja bei Sehenden auch vor.
Später ging Lisi alleine in Urlaub. Besonders in Bad Liebenzell im Schwarzwald hatte es ihr sehr gut gefallen. Diese Gegend war ihre zweite Heimat, aber auch im Harz war sie öfter anzutreffen. Mit der Zeit wurde Lisi eine sehr reiselustige Person und sie zog es immer wieder mit dem Flugzeug ins Ausland – mit mir als Begleitperson. Ihre erste Flugreise mit mir ging nach Israel. In meinen Reiseanekdoten "Wenn einer eine Reise tut" habe ich diese Reise ausführlich beschrieben.
Meine Zeit als Blindenbegleitperson unterbrach ich dann, als ich beruflich für fünf Jahre nach Stuttgart ging, aber als ich wieder zu Hause lebte, habe ich mich nach wenigen Jahren wieder als Blindenbegleitperson eingebracht. Noch während ich in Stuttgart arbeitete, lernte Lisi ihren stark sehbehinderten Mann Werner während eines Urlaubs im Harz kennen. Beide machten eine Hochzeitsreise nach Australien – und auch hier war ich als Begleitperson mit dabei. Lisi zog dann zu ihrem Mann nach Hamburg und beide meisterten dort gut ihr Leben.
Es gibt verschiedene Ursachen von Blindheit oder starker Sehbehinderung. Eines Tages begleitete ich eine stark Sehbehinderte nach Stuttgart-Vaihingen übers Wochenende auf eine Tagung. Aus dem gesamten Bundesgebiet kamen Menschen, die durch Makula-Degeneration stark sehbehindert oder auch erblindet waren, in einem Hotel zusammen. Dort gab es verschiedene Vorträge über diese Art der Erblindung. Es wurden die neuesten Erkenntnisse und Apparate zur Diagnoseerstellung vorgestellt, aber Behandlungsmöglichkeiten gab es (zum damaligen Zeitpunkt) keine.
In diesem Hotel spielte am Samstagabend eine Band zum Tanz auf. Es war eine super, hinreißende Stimmung. Als die Band weg war, war noch lange nicht Schluss, und die Leute sangen, schunkelten, tanzten und lachten einfach ohne Musik weiter, dass ich mir dachte, eine Karnevalsveranstaltung kommt da nicht mehr mit. Und der Spaß ging bis in die frühen Morgenstunden.
Das ist schon sehr lange her, aber mir bleiben diese Erlebnisse immer noch im Gedächtnis. Einmal fand ein Ausflug in unsere nächste Umgebung statt, und da erzählten die Blinden und Sehbehinderten, teilweise mit sehr viel Humor, ihre nicht ganz alltäglichen Erlebnisse. Eine dieser Geschichten handelte von einer mir sehr gut bekannten blinden Frau, die ihren Kaffee immer mit wenig Zucker und wenig Milch trank. Nun gab sie, wenn Kaffee in die Tassen eingeschenkt wurde, "Anweisungen", wie sie ihren Kaffee mochte. Die lachte sich beinahe schief, als sie bei einer früheren Veranstaltung nicht bemerkte, dass sie noch gar nichts in ihrer Tasse hatte und sie in ihrer leeren Tasse herumrührte.
Ich habe noch nie so patente, zufriedene, lustige, aufgeschlossene, selbständige, selbstbewusste Menschen kennengelernt, die kein Mitleid wollten und fast nie aufgaben. Aber mir ist leider auch der Fall eines meinen Eltern und mir bekannten, klugen, jungen Mannes in Erinnerung, der mit seiner Erblindung nicht fertiggeworden war und sich umgebracht hat. ...
Alle Bücher von Ulla Schmid auf ihrer Autorenseite
© "Was ich im Umgang mit Blinden und stark Sehbehinderten erlebt und gelernt habe": Eine autobiographische Episode aus dem Leben der Autorin Ulla Schmid, 11/2020. Die Abbildung zeigt ein Paar beim Spaziergang, CC0 (Public Domain Lizenz).
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