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Mein Ehemann Edgar und ich beschlossen eines schönen Sonntags im Sommer eine Ausfahrt aufs Land zu machen. Wir hatten ein kleines Jubiläum zu feiern: wir lernten uns vor fünf Jahren kennen. Wie immer am Jahrestag wollten wir in dem gemütlichen Landgasthof, in dem wir uns das erste Mal gesehen hatten, zu Mittag essen, ein wenig auf verschlungenen idyllischen Waldwegen wandern und abends wieder nach Hause fahren. Gut gelaunt machten wir uns auf den Heimweg. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee hatte, von der Hauptstraße abzubiegen, um eine uns unbekannte Gegend zu erkunden.
Wir waren noch nicht lange auf einer Nebenstraße gefahren und Häuser und Wohngegenden hatten wir schon lange hinter uns gelassen. Mir erschien die Gegend immer unheimlicher, als wir im Scheinwerferlicht eine Gestalt stehen sahen, den Daumen hoch erhoben. Beim Näherkommen entpuppte sich diese Gestalt als hübsches Mädchen, das per Anhalter fahren wollte.
"Na, die hat vielleicht Nerven, in dieser abgelegenen Gegend um diese Zeit per Anhalter zu fahren. Weiß sie nicht, wie gefährlich das ist?", knurrte Edgar.
"Wir nehmen sie mit", meinte ich, "bei uns passiert ihr nichts."
Edgar bremste neben dem Mädchen und ließ sie auf dem Rücksitz Platz nehmen.
"Wo wollen Sie denn hin, haben Sie keine Angst?", fragte ich.
"Nein, ich habe keine Angst", antwortete das Mädchen. "Ich heiße Kordula Dierksen und möchte nach Hause. Ich fahre öfter per Anhalter", und nannte die Adresse ihrer Eltern.
"Da wohnen Sie aber ziemlich einsam", lachte ich.
"Das stimmt schon. Bei uns sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht!", lachte sie zurück.
"Uns wäre es lieb, wenn Sie sich anschnallen würden", sagte Edgar. Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Unter eisigem, ungemütlichem Schweigen fuhren wir eine Weile. Die Gegend wurde immer unheimlicher. Mich fröstelte. Mir war, als vernähme ich ein leises Klicken, schob es aber auf mein überreiztes Nervenkostüm. Ich konnte nicht sagen, warum ich so unruhig wurde. Auch Edgar blickte verbissen auf sein Lenkrad und auf die Straße. Später erzählten wir uns, dass wir es beide nicht hatten erwarten können, Kordula Dierksen zu Hause abzusetzen. Dabei war sie sicher ein harmloses Geschöpf, das froh war, wenn man es in Ruhe ließ. Um dieses Schweigen zu unterbrechen wollte ich eine Unterhaltung mit ihr anfangen.
"Gehen Sie noch zur Schule?", fragte ich nach hinten, nur um etwas zu sagen und drehte mich halb um. Ich erschrak tödlich: sie war nicht mehr da.
"Edgar", würgte ich, "sie ist nicht mehr da. Das gibts doch gar nicht. Schau dich mal um, wie konnte sie so einfach verschwinden? Mir war aber vorher, als ob ich ein leises Klicken vernommen hätte."
Edgar drehte sich um, sie war tatsächlich nicht mehr da. Wir waren sprachlos und konnten keine vernünftige Erklärung für das Verschwinden des Mädchens finden.
Es war bestimmt schon Mitternacht, als wir auch noch eine Panne hatten. Der Motor des Wagens gurgelte mehrmals, röchelte und starb schließlich ab.
"Auch das noch", sagten wir wie aus einem Mund. Wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden. Hatten wir kurz nach dem Verschwinden des Mädchens noch einzelne Häuser gesehen, befanden wir uns jetzt allein auf weiter Flur. Ich bekämpfte die aufsteigende Angst und das gerade Erlebte und die unheimliche Gegend trugen nicht dazu bei, dass ich mich beruhigen konnte. Allerdings riss ich mich zusammen, denn Edgar sollte nichts von meiner Angst mitbekommen; es gelang mir nicht.
"Irgendwie habe ich das Gefühl, in der Nähe der Wohnung des Mädchens zu sein. Wir brauchen den Pannendienst. Dann würde mich sehr interessieren, was sich in unserem Auto gerade abgespielt hat", knurrte Edgar.
Wir hatten Glück. Wir konnten keine hundert Meter von der Stelle entfernt, an der unser Wagen liegengeblieben war, ein einzelnes Haus auf einem Hügel erkennen. Die Bewohner waren gewiss alle schon im Bett; es war stockdunkel.
"Willst du mitkommen oder hierbleiben?", fragte Edgar.
Beides schien mir nicht sehr verlockend. Ich war der geborene Angsthase, und im Dunkeln fürchtete ich mich sowieso. Es dauerte schon eine Weile, bis ich mich endlich entschieden hatte, im Auto zu bleiben. Erst als Edgar etwas scharf blaffte: "Morgen früh um sieben Uhr muss ich an meinem Arbeitsplatz sein", war die Entscheidung endgültig zugunsten des Autos gefallen.
"Ich werde versuchen, in das Haus zu kommen, damit wir einen Pannendienst verständigen können. Ich komme so schnell wie möglich. Lass die Türen geschlossen. Ich glaube zwar nicht, dass sich in dieser Gegend um diese Zeit jemand herumtreibt, aber du wirst dich sicherer fühlen", meinte Edgar liebevoll. ...
© "Die Anhalterin: Das Verschwinden": Kurzgeschichte in zwei Teilen von Autorin Ulla Schmid, 06/2019. Bildnachweis: Ausgestreckte Hand einer Anhalterin, CC0 (Public Domain Lizenz).
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