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Die zehn Erzählungen von Cristiana Pivari lassen den Leser weinen, lachen und über das Leben reflektieren. Jede Geschichte erzählt das Leben aus einer anderen Perspektive. Porträtiert werden in "Erste Person Singular" alte und junge Personen, Kranke und Gesunde, Arme und Geschlagene, Asylsuchende und sogar ein Embryo. Der Leser lernt auf diese Weise verschiedene Perspektiven des Lebens einzunehmen und Rollen zu hinterfragen.
Dieser Erzählband gewann 2005 den italienischen Elsa-Morante-Preis für unveröffentlichte Literatur (italienischer Originaltitel: "In prima persona singolare"; ab 2007 wurde er in zwei Auflagen publiziert). Es handelt sich um Cristiana Pivaris erste literarische Veröffentlichung.
Buchtipp: "Erste Person Singular" wurde nun in deutscher Sprache als E-Book veröffentlicht und umfasst ca. 70 Buchseiten.
In diesem Zimmer mit Wänden aus Glas schwindelt es mich. Und man hat mir viele Fragen gestellt. Ich habe noch nie irgendwem etwas von mir erzählt. Und jetzt, hier, hier finde ich mich wieder, wie ich Leuten von mir erzähle, als wären wir alte Freunde. Ich muss nach Hause. Wenn meine Mutter mich nicht nach Hause kommen sieht, überfallen sie Sorgen. Arme Frau.
Freitag, es war Freitag als ich sie beim Büro aufgabeln wollte. Das war das erste Mal, dass ich das machte. Ich wollte sie erstaunen. Dann wollte ich ihr mein neues Auto zeigen. Es wurde durch jahrelanges Sparen erwirtschaftet. Ein alter Ford, Dieselmotor, metallfarben, wie Nuccios, dem Sohn des Hausmeisters.
Nun, ich fand kein Büro. Ich fragte herum. Aber sie sagten mir, es gäbe kein Büro an diesem Ort mit diesem Namen. Ich war etwas besorgt. Wäre es denkbar, dachte ich, dass ich mich nach all den Jahren nicht richtig erinnere? Ich war mir nicht sicher, was ich denken sollte. Und dann sah ich sie: Sie stand da, zwischen anderen Frauen. Sie standen da in einer Traube am Straßenrand. Ich sagte zu mir, sie seien sicherlich gerade aus dem Büro gekommen, alle gemeinsam. Und nun wollten sie eine Pizza essen gehen. Ich hielt mit dem Wagen. Und gleich kam eine angesprungen, mich fragend, ob ich nicht mit ihr gehen wolle.
Und dann verstand ich. Ich hatte es mir jahrelang ausgemalt, und dann wieder von mir geschoben.
Meine Mutter war eine Nutte. Ja, ihr habt's richtig kapiert. Meine liebenswerte, herzliche, wunderbare Mutter ging mit vielen anderen Männern. Und sie machte, dass diese zahlten. Ich könnte behaupten, ich wäre schockiert gewesen. Aber das wäre nicht ganz richtig, denn, bin ich ganz ehrlich, wusste ich das. Ich wollte es nicht glauben, aber ich wusste es. Das Gekicher meiner Kameraden in der Mittelschule, wenn der Lehrer mich nach dem Beruf meiner Mutter fragte, die Sprüche der Nachbarn. Alles war klare Kante. Und dann kleidet sich eine Mutter, die einer ernsten Arbeit nachgeht, auch nicht so.
Ich fuhr nach Hause zurück. Ich wartete dann auf sie. Sie hatte mich nicht gesehen. Sie wusste nicht, dass das mein Wagen war. Und dann erzählte ich es ihr, sanft, ohne grausam zu sein. Und sie weinte, leises Weinen, und dann erzählte sie. Sie war endlich befreit. Die Beklemmung, die sie die letzten Jahre gefasst gehalten hatte, fiel von ihr.
Dreißig Jahre im Gewerbe. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Ich streichelte ihr Haar. Ich sagte ihr: "Nicht weinen". Glaubt mir, ihr Herz war zerrissen vor Schmerz.
Arme Frau. Ein vergeudetes Leben. Und jetzt, was sollte jetzt geschehen? Jetzt, da mir alles bekannt war, jetzt, da ich es selbst gesehen hatte? Ich konnte mich nicht mehr doof stellen. Ich musste eine Entscheidung fällen.
Ihr Hals war zerknittert und faltig. Es wirkte als straffte sie den Hals einer Henne. Sie schaute mich mit erstaunten Augen an. Immerhin aber las ich auch eine Erleichterung.
Ich drückte sie fester an mich, und so hörte sie schließlich auf zu weinen. ...
Der Erzählband "Erste Person Singular" von Cristiana Pivari (deutsche Übersetzung: Pia-Felicitas Hawle) wurde im April 2018 als E-Book veröffentlicht.
Was geschieht in "Bombe, keine Bombe"? Annalisa ist ein Teenager, der zur Zeit des Südtiroler Terrorismus in Trient lebt. Die Selbstbestimmung Südtirols, die Abspaltung von Italien und die Annexion an Österreich, um unter dessen Souveränität die Vereinigung der historischen Region Tirol zu erreichen, wurde nachdrücklich verfolgt. Bomben wurden platziert.
Annalisa jedoch hat Angst vor Bomben. Sie sucht in den Zeitungen ihres Großvaters nach allem, was damit zu tun hat. Aber sie ist noch ein kleines Mädchen und verliebt sich schließlich in einen Schulfreund, bekommt ihre Menstruation und notiert alles sorgfältig in ihrem Tagebuch. Dann explodiert eine Bombe im Bahnhof von Trient, gleichzeitig wird ein Mädchen tot aufgefunden. Das sind Fakten, die Annalisa aufwühlen, die sie aber nicht daran hindern, ihre Jugend zu leben, denn am Ende dominiert das Leben.
© Buchtipps "Erste Person Singular" sowie "Bombe, keine Bombe": Herzlichen Dank an die Autorin und Übersetzerin Cristiana Pivari für die Leseproben und das Coverbild, 04/2018, mit einem Nachtrag vom Februar 2019.
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