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Die Autorin Syelle Beutnagel hat für uns ganz besondere Kurzgeschichten zum Lesen, Vorlesen und Immer-Wieder-Lesen zusammengestellt; zusätzlich ist jede Geschichte mit einer farbigen Illustration versehen. Ein Reigen von kleinen Geschehnissen, die beim genauen Hinschauen dann doch nicht so klein sind. Oft kann eine dieser Geschichten aus dem Naturwald direkt in die weite Welt exportiert werden und dort synonym ihre Berechtigung erfahren.
Manchmal sind die leisen Töne überall zu finden, und wenn es nur in den stillen Momenten des eigenen Herzens ist. So sind diese Capriccios mehr als nur kurze Eindrücke, inspiriert von der Landschaft rund um die Ortschaft Zorge im Südharz. Die Geschichten erzählen vom unscheinbaren Zweikampf ums Überleben oder dem kurzen aber unerschütterlichen Moment des Vertrauens.
Das schmale, aber nicht weniger interessante Büchlein von Syelle Beutnagel umfasst auf mehr als fünfzig Seiten rund zwanzig wunderschöne Geschichten und ist mit vielen farbigen Abbildungen ausgestattet. "Tierische Capriccios: Geschichten aus dem Naturwald" liegt aktuell nur als E-Book vor; eine Taschenbuch-Ausgabe ist in Planung.
"Nein, bitte! Hilfe! Ich fleh euch an. Brennt nicht mein Haus nieder." Die Frau rutschte auf ohnehin schon blutigen Knien dem Soldaten nach, ergriff einen Zipfel seiner Uniform und ließ sich mitschleifen.
"Bitte", wimmerte sie halb bewusstlos.
Auf einmal ließ der Schmerz nach. Sie sah verwundert hoch und blickte in ein paar dunkle, reglose Augen.
"Also gut", begann es von den Augen her zu reden, "ich will dir einen Rat geben. Hör zu."
Es war ein ungewöhnlich feinfühliger Soldat, er würde ihr einen Rat geben, eine Geschichte erzählen, wie sie sich retten konnte. Ringsum brannten die Häuser der Nachbarn schon. Er setzte sich auf einen Haufen Trümmer und zog sie zu sich heran.
"Also hör zu. Es war einmal eine Eiche. Es war eine junge, noch schlanke Eiche, die am Ufer eines reißenden Flusses stand. Diese Eiche wurde von einem ebenso jungen und schlanken Mädchen bewohnt. Sie hieß Dryade und war die gute Seele des Baums. Sie hatte lange schwarze Haare, die frisch und würzig dufteten. So wie eine Eiche im Sommer riecht. Und sie hatte eine dunkle, feste Haut wie ein Eichenstamm."
Versonnen strich der Soldat über den Arm der zitternden, leise schluchzenden Frau. "Und bei Wind umarmte Dryade den Stamm ihrer Eiche und schwang ihn hin und her, damit er nicht brach."
Die Frau zog ihre Knie unter ihrem zerfetzten Kleid heran und verstummte ängstlich.
Doch die Gedanken des Soldaten waren bei dem schwarzhaarigen Mädchen. Er sprach weiter. "So lebten Dryade und ihre Eiche viele Jahre zusammen. Doch eines Tages kamen Fremde. Sie schienen keine Farbe in ihrer Haut oder Haaren zu haben und sprachen in einer fremden Sprache. Doch Dryade war weise, sie kannte viele Sprachen. Darum verstand sie auch, was die Fremden sagten, als sie unter ihrer Eiche am Fluss standen. Sie würden den Fluss stauen. Ein See würde entstehen, und nur eine kleine Menge Wasser würde abfließen. Große Mengen Land würden überschwemmt werden. Unter anderem auch das, wo Dryades Eiche stand.
Dryade erschrak. Sie sprang auf, kletterte auf den äußersten Zipfel eines Eichenzweiges und rief: 'Nein. Das dürft ihr nicht tun. Ihr dürft den Fluss nicht stauen. Ihr dürft die Bäume nicht fällen. Verändert nichts.'
'Warum?', fragten die Fremden völlig verwundert.
'Weil ich sterben muss, wenn ihr meine Eiche fällt', antwortete Dryade traurig. 'Und alle meine Freunde und Verwandten auch, wenn ihr ihre Bäume fällt.'
'Dann sucht euch andere Bäume. Es gibt genug davon', riefen die Fremden gelangweilt und holten ihre Äxte.
Dryade blieb auf ihrer Eiche. Und als die Äxte zuschlugen, war es ihr, als träfe man sie selbst. Und als ihre Eiche starb, starb auch sie."
Der Soldat hielt inne und schien einen Augenblick lang traurig zu sein. Doch dann erhob er sich ruckartig und rief schon im Weggehen: "Sei du schlauer als Dryade. Verlasse deinen Baum." Und mit hartem Schritt verließ er die Frau.
Er hörte nicht mehr, wie sie leise sagte: "Aber Dryade war doch mit ihm verwurzelt." Doch da brannte ihr Haus schon.
© "Tierische Capriccios: Das Mädchen Dryade": Herzlichen Dank an die Autorin Syelle Beutnagel für diese Leseprobe und die Abbildung aus ihrem Buch, 10/2018.
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