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Alena muss ihre kaum begonnene Karriere als Kabarett- und Chansonsängerin aufgeben, als feststeht, dass sie fortan mit den Folgen gehirnorganischer Schäden zu leben hat. Oft rätselt sie, wie sie die nicht sichtbaren Symptome erklären soll. Um tagsüber gegen ihre ständige Müdigkeit anzukämpfen, beginnt sie Leinwände zu bemalen und Tagebuch zu schreiben. Sie wird eingeladen, an Ausstellungen teilzunehmen. Ihre farbenfrohen Bilder überzeugen das Publikum. Nachts aber quälen sie Albträume und düstere Erinnerungen.
"Akustikus: Traumata. Tod. Und Gesang." ist ein berührender und ermutigender Text zum Thema Befreiung aus traumatischen Fesseln mit Hilfe von Sprache, Musik und Malerei. Die Autorin zeigt in Erzählsträngen unterschiedlicher Genres auf, wie massiv sich frühe seelische Verletzungen in einer Biografie fortsetzen. Andernorts wird in einer Rezension berichtet, dass die Autorin "in einer völlig unpathetischen Sprache so packend (erzählt), dass man beim Lesen fast Ort und Zeit und eigene Sorgen vergisst".
Die Taschenbuch-Ausgabe von "Akustikus: Traumata. Tod. Und Gesang." wurde im Juni 2017 erstmals vom Verlag BookOnDemand vabaduse herausgegeben. Der 218 Seiten starke Erzählband von Anna Vreye trägt die ISBN 978-3864606793.
Liebe Mona,
niemals werde ich das Gefühl vergessen, das ich hatte, als du mir vor zehn Tagen geholfen hast, die Bilder in der Galerie aufzuhängen. Wie ich rief: Das wird nichts!
Da hast du meine kleinen Baumrindenbilder kurzerhand auf die Fensterbank gestellt. Ich war begeistert und konzentrierte mich sogleich auf die mit Aquarellfarben bemalten Leinwände, die in den letzten neun Lebensmonaten von Arend entstanden sind. Zuerst suchten wir eine Wand für TrauerBlüten, dann eine für Horizont und schließlich eine weitere für TodesUfer. Das passte. Doch erst nach langem Hin und Her gelang es uns, die anderen Bilder so einzufügen, dass alle ihre Wirkung entfalten konnten.
Auch einige der Bilder aus der Zeit vor Arends Erkrankung fanden Platz. Als es ihm zunehmend schlechter ging, war es beruhigend, sie in unseren Wohnräumen immer wieder anzusehen. Wir haben es ja nie besonders geliebt, Fotos zu machen. Die bemalten Leinwände erzählen mehr darüber, was wir erlebt haben, meinten wir. Arend hat es sehr gemocht, wenn ich meine Farben ausbreitete, um in einer Welt zu versinken, die mich tage- und wochenlang verzaubert hielt.
In deinem Brief wünschst du mir weiterhin positive Rückmeldungen zur Ausstellung. Du schreibst, wie du die Vernissage genossen hast und dass du dich von meinen Bildern immer noch berührt fühlst. Wie gut mir deine Worte tun! Du meinst, du könntest mir anderswo eine Wiederholung vermitteln, ich solle unbedingt einen Text dazu schreiben, das würde die Besucher sicher interessieren. Ja, Mona, das klingt überzeugend, aber ich fühle mich überfordert. Es war so schön, wie sich ein Freund am Ende der Veranstaltung ein Herz fasste, nach vorn kam und sagte: In den Bildern, die ich hier anschaue, wird Arend sichtbar. Formen lösen sich auf und lassen etwas erahnen, auch von dem, was man als Jenseitsvorstellungen bezeichnen kann!
Damit ist doch das Wesentliche gesagt worden, oder nicht?
Wenn ich beginne, ausgehend von den Bildern meine Erinnerungen einzufangen, wird er mehr und mehr in den Hintergrund treten, weil ich erzählen werde, was ich zu verarbeiten habe. Ja, es drängt mich, darüber zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob du die vielen Seiten, die ich in meinem Geiste schon vor mir sehe, wirklich lesen möchtest und ob wir am Ende eine Essenz herausfiltern können für eine Broschüre.
Obwohl ich es verlockend finde, meine Ausstellung im kommenden Jahr noch einmal zeigen zu können, fällt es mir schwer, die richtigen Worte dazu für andere zu finden. Mir ist, als sei nach einer komplizierten Schwangerschaft etwas Neues geboren worden, etwas Zartes und Schutzbedürftiges, etwas mein Leben Veränderndes, das neue Fähigkeiten von mir verlangt, obwohl ich Zeit gehabt habe, mich darauf vorzubereiten.
Bin ich nicht sogar ein bisschen mit ihm zusammen gestorben?
Überall spüre ich ihn, fühle mich liebevoll von ihm umgeben. Gleichzeitig merke ich, dass ich nicht auf Dauer so eng mit ihm verbunden bleiben kann. Das schmerzt ungemein. Ständig will ich an unsere Zeit zurückdenken, von dort aus auch an andere Zeiten, um wie aus der Vogelperspektive mein gesamtes Leben anzuschauen und mir ein Fundament zu sichern, auf dem ich nicht mehr vorrangig seine Frau bleiben kann, sondern wieder zur alleinstehenden Alena werde. Bewusst sage ich nicht: zur verwitweten Alena. Das löst eine merkwürdige Klischeevorstellung in mir aus. Ich bin am Ende und gleichzeitig in Aufbruchsstimmung, traurig und trotzdem froh, schwer und dennoch leicht, einsam und zugleich unendlich geborgen!
Hast du gehört, Mona, wie ich auf der Vernissage erzählt habe, dass ich, als der Countdown im Rahmen der entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten lief, dachte: Am farbigen Abgrund haben wir das Leben! Auch in den Nächten beim Umdrehen im Schlaf dachte ich immerzu: Am farbigen Abgrund haben wir das Leben! Bis mir wieder einfiel, dass Goethe nicht vom Abgrund, sondern vom Abglanz gesprochen hat: Am farbigen Abglanz ...
Und so fing ich an, im Alter von zweiundfünfzig Jahren, meine naive Vorstellung von einer Himmelswiese neu zu beleben und mich zu fragen, was man sich unter einem Abglanz vorstellen könnte. Ich malte Horizont, das war immerhin kein Abgrund! Zu gern hätte ich gewusst, ob es auf der Himmelswiese Farben gibt. Ob der helle Glanz dort die Pigmente auflöst? Warum leben wir auf der Erde so sehr in hellen und dunklen Stimmungen einer Farbpalette, in unzähligen Farbklängen, Farbformen und darüber hinaus in den Klangfarben unserer Stimmen? Wenn alles Irdische ein Abglanz ist, was ist dann der Glanz?
Arend glaubte nicht an eine Himmelswiese. Dennoch hörte er gespannt zu, wenn ich erzählte, wie ich manchmal von Bäumen und Pflanzen, vom Erdboden, vom Wasser, von den Wolken, von der Sonne oder von den Sternen berauscht bin, als ob sich in diesen Momenten Raum und Zeit auflösten. ...
Die Nähe des Todes konnte ich riechen wie das modernde Laub im Wald, dessen Duft mich schon in meiner Kindheit so manches Mal verwirrt hat. Wir wären gern geflohen, irgendwohin auf eine sonnige Insel mit paradiesischen Stränden, ohne Handy und Internet, unerreichbar und niemandem gegenüber dazu verpflichtet, Auskunft geben zu müssen. Es gab zu viele Fragen, die wir nicht beantworten konnten.
Wir wollten an einem warmen Ort sein, ohne Briefkasten, Klingel, Kalender, Wecker, Armbanduhr, Ärzte, Prognosen. Ohne den medizinischen Apparat, der ein Leben ermöglichte, das sich schablonenhaft anfühlte und Hoffnungsfunken produzierte, anstatt uns wie kleine Kinder schaukeln zu lassen, in der Gewissheit, dass kaum einer weiß, warum und wann ihm eines Tages nur noch ein paar Atemzüge zur Verfügung stehen werden.
Die Frage, die ich gern den Menschen um uns herum gestellt hätte, lautete: Gilt eure Anteilnahme wirklich ihm? Sind tatsächlich wir die Adressaten eurer ermutigenden Worte, eurer Ratschläge, eurer Karten und Blumengrüße, oder wollt ihr nicht vielmehr von uns eine Wunderheilung vorexerziert bekommen, damit ihr an der Überzeugung festhalten könnt: Wer alles richtig macht, stirbt nicht? ...
© Für die Textauswahl zur Buchvorstellung "Akustikus: Traumata. Tod. Und Gesang." sowie die Abbildung des Buchcovers danken wir BookOnDemand vabaduse, ein Imprint der Westarp Verlagsservicegesellschaft mbH, 02/2021.
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