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Im Grunde ist ja Veränderung eine tolle Sache. Kreuzberg allerdings hat sich dahingehend verändert, dass es heute eben gerade gegen alles steht, was nach Veränderung aussieht. Stattdessen ist Kreuzberg im Geist der 1970er Jahre erstarrt. Damals war der Westberliner Bezirk zwischen Mauer und Ku'damm das Mekka eines neuen Lebensgefühls.
Wir, die sich heimlich gefreut haben, wenn sie von anderen als Hippies bezeichnet wurden, konnten uns nichts Schöneres vorstellen, als in Kreuzberg zu wohnen. Da gab es große Altbauwohnungen für Wohngemeinschaften, Studentenkneipen mit Live-Musik und regelmäßig eine Demo, wo man es der spießigen Bourgeoisie so richtig zeigen konnte.
Das einzige, was noch darüber stand, war das einfache Leben auf dem Lande. Und weil es das auf dem umzäunten Grundstück Westberlin nicht gab, zog es die Obercoolen nach Psycho-Dannenberg. Das war ganz praktisch, denn in dem damaligen Zonenrandgebiet kurz hinter Helmstedt gab es jede Menge Bauernhöfe, die sonst eh keiner mehr wollte.
Und weil Gorleben gleich um die Ecke lag, gab es auch immer wieder Anlässe für eine handfeste Demo. Gegen Atomkraft und so. Natürlich sind die meisten mit Ackerbau und Viehzucht jämmerlich gescheitert. Die zogen dann wieder nach Kreuzberg zurück und galten alsbald als die wahren Helden, die an langen, rauchgeschwängerten Abenden ihre willigen Zuhörer über ökologisches Bewusstsein belehrten.
Ja, Kreuzberg war spannend, es herrschte Aufbruchstimmung. Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren von Würdenträgern in den Tempeln der Wissenschaften und der Gerichtsbarkeit sollte gelüftet werden. Denn tatsächlich waren ja etliche von deren tragenden Säulen aus dem Tausendjährigen Reich, das seine letzten 988 Jahre dann doch nicht mehr erleben sollte, noch immer in ihren Ämtern.
Nach dem Vorbild Mao Tse-tung's brach man auf zum langen Marsch durch die Institutionen und gelangte irgendwann zum Ziel. Waren früher Beamte schwarz oder braun und verteidigten vehement den Paragraphen 175, so sind sie heute rot oder grün oder schwul oder am besten gleich alles zusammen. Während früher nichts ging, weil ja da schließlich jeder kommen könnte, geht heute nichts, weil irgendwer oder was vor irgendwem oder was geschützt werden soll. Die rollatorbetriebene Oma vor dem Bistrotisch, den ein Döner-Verkäufer auf die Straße stellen will. Der Döner-Verkäufer vor dem Schnellrestaurant, das in ferner Zukunft einmal zehn Querstraßen weiter eröffnen will. Der Juchtenkäfer vor dem unterirdischen Fernbahnhof.
Oder: Die Wanderkröte vorm Transrapid. Letzterer fährt nun nicht von Berlin nach Hamburg, sondern von Pudong nach Shanghai. Das ist für die deutsche Wirtschaftsförderung zwar völliger Unsinn, aber zumindest wurde so ein Stück deutsche Gemütlichkeit erhalten. Die verplemperten Forschungs-Millionen sind nicht nur schnurzegal, sondern vielmehr ein Erfolg. Als Bestätigung für die sich selbst verwirklichende Prophezeiung, dass in Deutschland nichts sein kann, was nicht sein darf. Als Argument, dass man sie besser hätte in Kitas oder Windmühlen hätte stecken sollen, weil es in Deutschland eben kein Sowohl-als-auch, sondern nur ein Entweder-oder gibt.
War es in Kreuzberg einmal angesagt, nicht angepasst zu sein, so muss man sich hier heute anpassen. Weil Kreuzberg aber multikulti ist, hat man zumindest die Freiheit, zwischen zwei Typen wählen zu können. Das ist zwar genau genommen nicht multi-, sondern nur bikulti, aber dafür gibt es ja in Kreuzberg noch die ausländischen Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund, deren Töchter früher fröhlich aufgebrezelt durch die Straßen marschierten und die heute nur noch geduckt durchs Bild huschen, versehen mit dem obligatorischen Kopftuch, das selbst der eine oder andere tolerante Taliban akzeptieren würde.
Siehe dazu auch den Buchtipp: Inside Kreuzberg – Eine Hommage.
Wie auch immer, der einheimische Mann hat die Wahl zwischen den Alter-Naiven und den durchgeknallten Punks. Erstere tragen, egal welchen Alters, eine Frisur wie Hans-Christian Ströbele und dazu auch die gleichen Klamotten. Die Punks von Schwermetall zusammengehaltene Löcher-Jacken mit Leder-Fragmenten. Dazu Hose oder Kilt in Schotten-Karo, an den Füßen Knobelbecher, Joint in der linken, Bierbüchse in der rechten Hand.
Frauen haben die Wahl zwischen Esoterikerin und Giftzicke. Die Esoterikerin trägt die Haare offen bis zum Hintern, verlängert durch Walla-Rock bis zum Straßenpflaster. Dazu ein verklärtes Gesicht, das signalisieren soll, dass sie gerade von ihrem Guru beglückt wurde. Die Giftzicke gibt sich durch Roxette-Frisur zu erkennen, je nach Gusto in bunt oder natur. Dazu trägt sie Leggins oder Minirock und hält mit grimmiger Miene Ausschau, wen sie als nächsten kastrieren kann.
Zur Fortbewegung strapaziert die Kreuzbergerin das gute alte Hollandrad, mit dem 1968 schon die Großmutter vollgekifft durch den Bezirk gegurkt ist. Die Jungs dagegen flitzen mit selbst zusammengeschraubten Vehikeln durchs Revier, die zwar aussehen wie Konglomerate aus Altmetall, in Wahrheit aber allerfeinste Fahrradtechnik in sich bergen, das Beste eben, was man sich so im Internet zusammenkaufen kann.
Ist man als Fußgänger unterwegs, muss man aufpassen, dass man von keinem Radfahrer überfahren wird. Als Autofahrer, dass man keinen überfährt. Es führt immer der kürzeste Weg zum Ziel. Über Fahrbahn und Gehweg und diagonal über die Kreuzung. Steht man mit seinem Auto im Weg, gibt's auch schon mal eins mit der flachen Hand aufs Dach. Hat man ja auch nicht anders verdient, wenn man mit seiner Benzinkiste die Kreuzberger Luft verpestet und der Ausbeutung fossiler Rohstoffe Vorschub leistet.
Fußgängern gegenüber sieht die Moral anders aus. Sollen die doch Rücksicht darauf nehmen, dass man es eilig hat. Zur letztmöglichen Abgabe der Semesterarbeit, zum fast verpennten Date oder weil der Kunde am Kotti auf seine nächste Dröhnung wartet.
Wer des Lebens überdrüssig ist und seinem schnöden Erdendasein ein Ende setzen will, braucht sich nur mit einem Tapeziertisch in die Oranienstraße zu stellen und für die CDU zu werben. Die Chancen für einen spektakulären Abgang stehen nicht schlecht. Und wenn das mit dem Nirwana dann doch nicht klappen sollte, wird einem zumindest danach sein Zuhause wie das Paradies vorkommen, wenn man Kreuzberg hinter sich gelassen hat.
Während ich in den 70ern unbedingt in Kreuzberg wohnen wollte, aber aufgrund des damals akuten Wohnungsmangels mit dem weniger angesagten Arbeiterbezirk Wedding Vorlieb nehmen musste, lebe ich heute glücklich und zufrieden am Stadtrand von Berlin mit der Natur direkt vor der Haustür.
Haben wir Besuch aus dem Gebiet, das wir eingeborenen Westberliner noch immer Westdeutschland nennen, dann zeigen wir unseren Gästen lieber die Bezirke Mitte oder Prenzlauer Berg, wo wirklich was los ist. Und wenn ich denen erzähle, dass ich Kreuzberg im Grunde nur noch peinlich finde, dann tue ich den Kreuzbergern damit den größten Gefallen. Denn dass man in dem Bezirk, der früher einmal für Toleranz und Weltoffenheit stand, heute lieber unter sich bleibt, zeigt die Tatsache, dass man derzeit auch schon mal gegen Touristen demonstriert. Und das ist kein Witz.
© "Oh Kreuzberg": Textbeitrag von Helmut Eberhardt, Berlin 2011. Bildnachweis: Berlin Kreuzberg, CC0 (Public Domain Lizenz).
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